Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
erschlagen, und manchmal floh sie vor ihnen und entkam in die Tiefen des Waldes, wo die Cro-Magnons nicht wagten, ihr weiter nachzustellen. Einmal hatte eine Jagdgruppe im Eifer des Gefechts einen fliehenden Gur-na in den tiefen Wald verfolgt, und in einer Klamm, wo überhängende Äste das Sonnenlicht fernhielten, waren dann unzählige Neandertaler über sie hergefallen.
Deshalb betrat niemand mehr die Wälder.
A-æa schaute rasch zum Wald und wandte sich ab. Irgendwo in seinen Tiefen lauerte der Tiermensch mit Schweinsäuglein, die hasserfüllt, bösartig und grauenerregend funkelten.
Jemand verstellte ihr den Weg. Es war Ka-nanu, der Sohn eines Beraters des Häuptlings.
Sie zog sich mit einem Schulterzucken zurück. Sie mochte Ka-nanu nicht und fürchtete sich vor ihm. Er warb auf höhnische Weise um sie, als täte er es nur zum Vergnügen und werde sie ohnehin nehmen, wann immer es ihm beliebte. Er packte sie am Handgelenk.
»Wende dich nicht ab, holde Maid«, sagte er. »Es ist dein Sklave Ka-nanu.«
»Lass mich los«, antwortete sie. »Ich muss zur Quelle, um Wasser zu holen.«
»Dann gehe ich mit dir, Mond des Entzückens, damit dir kein Tier ein Leid antun kann.«
Und er begleitete sie trotz ihrer Einwände.
»Ein Gur-na treibt hier sein Unwesen«, sagte er ernst. »Die Gesetze erlauben es, dass ein Mann auch eine unverheiratete Maid zum Schutz begleitet. Und ich bin Ka-nanu«, fügte er in verändertem Tonfall hinzu. »Weise mich nicht zu heftig zurück, sonst lehre ich dich Gehorsam.«
A-æa hatte schon von der Skrupellosigkeit dieses Mannes gehört. Viele Mädchen des Stammes blickten mit Wohlgefallen auf Ka-nanu, denn er war sogar noch stämmiger und größer als Ga-nor und sah auf rücksichtslose, grausame Weise auch besser aus. Aber A-æa liebte Ga-nor und fürchtete sich vor Ka-nanu. Und eben diese Furcht vor ihm verhinderte, dass sie seine Annäherungsversuche energischer zurückwies. Ga-nor war für seinen höflichen Umgang mit Frauen bekannt, obwohl er ihnen gleichgültig gegenüberstand, während Ka-nanu stolz auf seinen Erfolg bei Frauen war – ein weiteres Zeichen der Weiterentwicklung – und seine Macht über sie nicht gerade auf höfliche Weise nutzte.
A-æa stellte fest, dass man Ka-nanu mehr fürchten musste als ein Tier, denn an der Quelle, knapp außer Sichtweite der Höhlen, nahm er sie in die Arme.
»A-æa«, wisperte er, »meine kleine Antilope, endlich habe ich dich. Du wirst mir nicht entkommen.«
Vergebens wehrte sie sich und flehte ihn an. Er nahm sie auf seine mächtigen Arme und schritt in den Wald hinaus.
Verzweifelt versuchte sie zu entkommen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Ich bin nicht stark genug, um dir zu widerstehen, aber ich werde dich vor dem Stamm anklagen.«
»Du wirst mich niemals anklagen, kleine Antilope«, sagte er, und sie las eine weitere, noch unheilvollere Absicht in seiner grausamen Miene.
Tiefer und tiefer trug er sie in den Wald hinein und verharrte dann mitten auf einer Lichtung, denn sein Jagdinstinkt war geweckt.
Aus den Bäumen vor ihnen ließ sich ein schreckliches Ungeheuer, ein haariges, unförmiges und scheußliches Wesen, zu Boden fallen.
A-æas Schrei hallte durch den Wald, als die Kreatur sich näherte. Ka-nanu ließ entsetzt und mit weißen Lippen A-æa fallen und riet ihr davonzulaufen. Dann zog er Messer und Axt und ging auf das Wesen zu.
Auf kurzen, missförmigen Beinen hechtete der Neandertaler nach vorn. Er war mit Pelz bedeckt, und seine Gesichtszüge waren wegen ihrer grotesken Menschenähnlichkeit grässlicher als die eines Affen. Mit den flachen, bebenden Nasenflügeln, einem fliehenden Kinn, Reißzähnen, ohne nennenswerte Stirn und mit immens langen Armen, die von hängenden, unglaublichen Schultern baumelten, erschien das Monster dem entsetzten Mädchen wie der Teufel persönlich. Sein affenähnlicher Schädel reichte Ka-nanu nur bis an die Schultern, doch wog es sicher fast fünfzig Kilo mehr als der Krieger.
Wie ein angreifender Büffel stürmte die Kreatur auf Ka-nanu zu, der sie breitbeinig und kühn erwartete. Mit Feuersteinaxt und Obsidiandolch schlug und stach er auf das Wesen ein, doch die Axt wurde wie ein Spielzeug zur Seite gefegt, und der Arm, der das Messer hielt, zerknickte in der unförmigen Hand des Neandertalers wie ein Ast. Das Mädchen sah, wie der Sohn des Beraters hochgehoben und durch die Luft gewirbelt wurde, sah, wie er quer über die Lichtung flog, sah, wie das Monster
Weitere Kostenlose Bücher