Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
Tür des Schränkchens auf. Seine Augen weiteten sich überrascht, und für einen Moment sahen wir einander an, ohne etwas zu sagen. Es lag eine beinahe elektrische Spannung in der Luft, und dann hörte ich über mir wieder das Trampeln der Hufe. Eine unheimliche Kälte durchfuhr mich wie eine namenlose Angst – ich hätte jeden Eid geschworen, dass in den Räumen über mir ein Pferd oder sogar ein noch größeres Tier trabte!
Ich warf den Hammer zu Boden, stürmte ohne ein Wort aus dem Haus und atmete erst wieder völlig ruhig, als ich meine Bibliothek erreicht hatte. Dort ließ ich mich grübelnd nieder, doch mein Verstand war ein chaotisches Durcheinander. Hatte ich mich zum Narren gemacht? War der höllische Ausdruck auf John Starks Gesicht, als er sich hinter mir anschlich, nur eine verzerrte Spiegelung gewesen? War die Fantasie mit mir durchgegangen? Oder – und bei diesem Gedanken drangen dunkle Ängste in mein Bewusstsein – hatte eben diese Spiegelung in der silbernen Platte mein Leben gerettet? War John Stark wahnsinnig?
Mich schüttelte es bei diesem schrecklichen Gedanken. War etwa er für die verabscheuungswürdigen Verbrechen der letzten Zeit verantwortlich? Dieser Verdacht war absolut haltlos. Welchen Grund könnte ein kultivierter, älterer Gelehrter haben, Kinder zu entführen und Landstreicher umzubringen? Wieder regten sich Ängste in mir, dass er möglicherweise doch ein Motiv haben könnte – vor meinem inneren Auge entstanden schauderhafte Bilder von einem grauenvollen Labor, in dem ein verrückter Wissenschaftler entsetzliche Experimente an Menschen durchführte.
Dann musste ich über mich selbst lachen. Selbst wenn John Stark wirklich wahnsinnig war, so lagen die kürzlich begangenen Verbrechen doch weit außerhalb seiner körperlichen Kräfte. Nur ein Mann mit beinahe übermenschlichen Fähigkeiten vermochte lebhafte Kinder lautlos fortzuschleppen und die Leiche eines Ermordeten auf seinen Schultern zu tragen. Für einen Krüppel war dies unmöglich.
Die Höflichkeit gebot es, dass ich noch einmal zu Mr. Stark ging und mich für mein albernes Benehmen bei ihm entschuldigte – aber dann traf mich eine plötzliche Erkenntnis wie ein eiskalter Wasserstrahl. Ich hatte etwas gesehen, aber nicht bewusst wahrgenommen, sodass es sich nur in meinem Unterbewusstsein festgesetzt hatte: Als ich mich bei der Reparatur des lackierten Schränkchens zu John Stark umgedreht hatte, stand er aufrecht vor mir, ohne Krücke.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, wies den Gedanken von mir und ließ mich mit einem Buch auf meinem Lesesessel nieder. Das Buch, das ich nur zufällig gegriffen hatte, eignete sich nicht sonderlich gut dazu, mich aus den dunklen Schatten meiner quälenden Gedanken zu führen. Ich hielt die äußerst seltene Düsseldorf-Ausgabe von Von Junzts Unaussprechliche Kulte in Händen, auch das »Schwarze Buch« genannt, was nicht an seinem Ledereinband mit den Eisenklammern liegt, sondern an seinem finsteren Inhalt. Ich schlug das Buch auf einer beliebigen Seite auf und vertiefte mich in das Kapitel über die Heraufbeschwörung von Dämonen aus der Leere. Mehr als jemals zuvor ahnte ich, dass ein tiefgreifendes, dunkles Wissen hinter den unglaublichen Behauptungen des Autors stand, als ich von unbekannten, gottlosen Welten las. Laut von Junzt wirken grausame unerklärliche Kräfte aus diesen Welten, die von blasphemischen Wesen bewohnt werden, auf unser Universum ein. Von Zeit zu Zeit durchdringen sie auf Anweisung böser Zauberer mit schrecklicher Macht den Schleier zwischen den Welten, um den Verstand der Menschen zu zerstören und ihren Durst an deren Blut zu stillen.
Über der Lektüre döste ich schließlich ein, und ich erwachte aus meinem Schlummer, als sich eine kalte Angst wie ein Schatten auf meine Seele legte. In meinen unruhigen Träumen hatte ich Marjory ganz leise nach mir rufen gehört, so als sei sie durch neblige, unendlich tiefe Abgründe von mir getrennt. Aus ihrer Stimme sprach entsetzliche Angst, die das Blut in meinen Adern erstarren ließ, und sie klang, als würde sie von einem scheußlichen Schrecken bedroht, der die menschliche Vorstellungskraft bei Weitem überstieg. Der Albtraum ließ meinen ganzen Körper erschaudern, und mir war überall kalter Schweiß ausgebrochen.
Ich griff zum Telefon und rief bei den Ashs an. Mrs. Ash meldete sich und ich bat darum, mit Marjory sprechen zu dürfen.
Als sie sprach, spürte ich die Angst in ihrer Stimme durch die
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