Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
und wartete, ob etwas passierte. Ich wusste weder, welche Gefahren in diesem geheimnisvollen, dunklen Gebäude auf mich warteten, noch ob ich es mit einem einzelnen Wahnsinnigen oder einer ganzen Bande von Mördern aufnehmen musste. Ich will mich nicht als besonders mutig bezeichnen, aber die unheimliche Rage, die in mir tobte, löschte jeden Gedanken an persönliche Ängste aus. Vorsichtig versuchte ich, die Tür zu öffnen. Das Haus war mir zwar nicht sonderlich vertraut, ich glaubte aber, dass die Tür in einen Vorratsraum führte. Sie war von innen verschlossen. Ich schob die Schwertspitze in den Spalt zwischen Tür und Rahmen und stemmte mich vorsichtig, aber kräftig dagegen. Es war unmöglich, die antike Klinge, geschmiedet mit uralter handwerklicher Kunstfertigkeit, zu zerbrechen, und ich war mir sicher, dass irgendetwas an der Tür nachgeben musste, wenn ich meine ganze, recht beträchtliche Kraft aufbrachte – es war das altmodische Schloss, das nachgab. Dann brach die Tür mit einem Knarren auf, das mir in der völligen Stille schrecklich laut vorkam.
Während ich eintrat, versuchte ich angestrengt in der völligen Dunkelheit etwas zu erkennen. Bozo huschte lautlos an mir vorbei und verschwand in der Finsternis. Um mich herum herrschte vollkommene Stille, und plötzlich jagte mir das Klirren einer Kette einen Schauder namenloser Angst über den Rücken. Ich wirbelte herum, meine Haare sträubten sich, ich hob das Schwert an – und dann hörte ich das gedämpfte Schluchzen einer Frau.
Ich wagte es, ein Streichholz anzuzünden. Im schwachen Schein erkannte ich ein großes staubiges Zimmer, in dem sich jede Menge Gerümpel zu zahllosen Bergen auftürmte – und in einer Ecke des Raumes kauerte eine Gestalt, die wie ein bemitleidenswertes Mädchen aussah. Es war Marjory, und Bozo war bereits bei ihr und leckte ihr winselnd übers Gesicht. Stark war nirgendwo zu sehen, und die einzige andere Tür, die aus dem Raum führte, war verschlossen. Ich trat rasch hinüber und schob den altmodischen Riegel zur Seite. Dann zündete ich einen Kerzenstummel an, den ich auf dem Tisch gefunden hatte, und eilte zu Marjory. Stark konnte zwar unerwartet durch die Außentür zu uns hereinkommen, aber ich wusste, dass Bozo uns warnen würde, falls er sich näherte. Der Hund zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Zorn, die auf die Anwesenheit eines versteckten Feindes hingedeutet hätten, doch ab und an blickte er zur Zimmerdecke hinauf und ließ ein tiefes, beunruhigendes Knurren vernehmen.
Marjory war geknebelt, ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Um ihre schlanke Taille lag eine kleine Kette, mit der sie an einen schweren Ring in der Wand gefesselt war, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Ich befreite sie sofort, und als sie ihre Arme krampfhaft um mich schlang, wurde sie von einem heftigen Zittern geschüttelt. Sie sah mich aus ihren großen dunklen Augen an, schien mich jedoch nicht zu erkennen, aus ihrem Blick sprach ein Schrecken, der meine Seele erschütterte, und eine nie gekannte, unheimliche Vorahnung ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
»Marjory!«, keuchte ich. »Was um Himmels willen ist mit dir passiert? Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Sieh mich nicht so an! Um Gottes willen, Marjory …«
»Hör doch!«, flüsterte sie zitternd. »Das Trampeln – das furchtbare Trampeln der Hufe!«
Ich riss den Kopf hoch und sah, wie Bozo, bei dem sich jedes einzelne Haar aufgestellt hatte, zusammenzuckte. Über unseren Köpfen erklang das Stampfen der Hufe, aber nun waren die Tritte gigantisch, elefantös. Bei jedem Schritt erschütterte das ganze Haus. Es lief mir eiskalt über den Rücken.
»Was um Himmels willen ist das?«, flüsterte ich.
Marjory presste sich noch enger an mich.
»Ich weiß es nicht! Ich wage nicht, darüber nachzudenken! Wir müssen von hier weg! Lass uns schnell fliehen! Es wird zu uns herunterkommen – es wird aus seinem Gefängnis ausbrechen. Ich höre es nun schon seit Stunden …«
»Wo ist Stark?«, fragte ich leise.
»Dort … dort oben!« Sie erschauderte erneut. »Ich erzähle dir rasch alles – aber dann müssen wir fliehen! Ich fand, dass deine Stimme seltsam klang, als du mich angerufen hast, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und bin hinausgegangen, um dich zu treffen. Ich habe Bozo mitgenommen, weil ich mich draußen in der Dunkelheit alleine gefürchtet hätte. Als ich dann im Schatten des Wäldchens stand, sprang mich
Weitere Kostenlose Bücher