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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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nickte. »Versucht, eine Stunde durchzuhalten, bevor ihr euch löst. Wir haben eine provisorische Mauer aus den Steinen der Gemäuer des Handelsfelds errichtet und werden uns dahinter verschanzen. Ein Rückzug von etwa hundert Schritt …«
    »Eine Stunde. Einverstanden.«
    Arekh drehte sich zu Amîn um, und Harrakin gab seinem Pferd die Sporen. »Wir werden morgen früh bei Sonnenaufgang reden, wenn wir den noch erleben. Viel
Glück, Morales! Möge Ayesha Euch schützen«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, bevor er sich entfernte.
    »Natürlich«, sagte Arekh bitter.
    Dann umfing der Kampf ihn wieder, und eine Stunde lang gab es nichts bis auf den Strudel der Schlacht, das Feuer des Zorns und den Wind des Todes.
     
    Zu seinen Füßen erblickte der König der Sakâs nichts als Schönheit.
    Der Große Zyklus vollendete sich vor seinen Augen und durch ihn. Wie herabgestürzte Sterne tanzten die Flammen der Fackeln - die Flammen der Zykluskrieger - in weiter Ferne unten auf der Ebene und trugen die Reinheit einer neuen Morgenröte mit sich. Die Offiziere der Königreiche glaubten, dass sie das Feuer nur nutzten, um Furcht in die Herzen ihrer Feinde zu säen, und dass deshalb jeder Sakâs eine Fackel in der Hand trug, dass deshalb die großen Feuer brannten, aus denen jeder einzelne Funke den Ruhm der Göttin Hâl in den Himmel trug. Aber das stimmte nicht. Die Angst und die Wirkung auf die feindlichen Soldaten waren nebensächlich. Was zählte, war die Symbolkraft. Was zählte, war die Kunst.
    Die Kunst. Wie sehr er sich darin versenkt hatte, als er jünger gewesen war! So viele Gemälde und Statuen, Gedichte und große Epen hatte er studiert, kopiert und geliebt - dort unten, in den Türmen der Universität von Reynes, deren hohe Umrisse aus der Ebene aufragten. Einer der Lieblingslehrer des Sakâs-Königs, der damals nur Student gewesen war, hatte ihn in die Theorien der bewegten Kunst eingeführt. Wie hatte dieser Lehrer doch gleich geheißen? Der Name fiel ihm nicht ein. Aber vielleicht
lebt er ja heute noch , dachte der junge König. Vielleicht lehnte er sich jetzt gerade aus einem der Fenster des Roten Turms der Fünften Universität, den er sicher nie verlassen hatte. Dieser Lehrer hatte ihm erklärt, dass Kunst niemals festgehalten werden konnte, dass sie ungezwungen aus Leben und Tod hervorsprudelte. Die wichtigen Männer, die, auf die es ankam - große Anführer, große Könige, große Priester, die wie Götter die Schicksalsfäden der Menschen tanzen ließen -, waren die wahren Künstler, und die Welt bildete ihre Leinwand.
    Wenn er am Fenster stand, wie stolz musste er dann heute auf seinen Schüler sein!
    Der König der Sakâs stand am Rande des Großen Kreises und betrachtete die Schönheit, die er geschaffen hatte. Zunächst die düstere Pracht der Stadt, in der heute Nacht sicher niemand ein Auge zutun würde - einer Stadt, deren elegante, abgerundete Formen man nur mühsam erahnen konnte. Die ärmsten Viertel lagen im Dunkeln, denn die Armen verschwendeten keine Kerzen oder Fackeln in einem nutzlosen Kampf gegen die Dunkelheit. Obwohl man sie aus dieser Ferne kaum sehen konnte, nahm der König doch die matten Lichter der öffentlichen Beleuchtung der großen Straßen wahr, auch die heiligen Feuer, die Tag und Nacht auf den Terrassen der Tempel brannten und ihre Konturen wie mit einem feinen Pinsel nachzeichneten. Manche Türme blieben dunkel, Schatten im Schatten. Man erahnte sie nur, wenn man wusste, dass sie da waren; in anderen erspähte man dann und wann die tanzenden Lichter von Fackeln hinter den Fenstern.
    Aber diese Feinheiten und der zurückhaltende Glanz der nächtlichen Stadt wurden heute von den kräftigeren Farben des Krieges ausgelöscht. Was in dieser Nacht funkelte,
waren die bewegten Lichter der Wachen mit ihren Fackeln auf den Mauern, die Feuer auf den Wehrgängen, die Armbrust- und Bogenschützen beleuchteten. Und weiter unten, in der Ebene, erstreckte sich sein Meisterwerk: der Flammentanz, das größte Ballett der Welt. Jeder Sakâs trug eine Fackel, und sie waren zu Tausenden. Und alle tanzten sie, suchten in der Menge ihren Partner, den, dem sie die letzte Ehre erweisen würden. All diese Feuer, die sich auf schwarzem Grund bewegten, hätten auch funkelnde Juwelen oder Glühwürmchen sein können …
    Der König lächelte. Es gab zwei Hauptgruppen, zwei Lichtermeere. Seine beiden Armeen. Die erste stürmte gegen das Große Tor an, das von den drei gewaltigen Feuern

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