Volk der Verbannten
»Als ich Euch zum ersten Mal gesehen habe, in der Tränenstadt, da habt Ihr mir gesagt, dass Ihr Verbündete bräuchtet. Dass der Bürgermeister Eure Position in Frage stellte. Dass Ihr fürchtetet, dass Eure Tage gezählt wären.«
Sie hatte das Bündnis damals geschlossen - und es dann vergessen. Seitdem war so viel geschehen …
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Nachdem ich nach Harabec zurückgekehrt war, haben sich die Ereignisse
überschlagen. Der Emir hat versucht, in unser Land einzudringen, und dann …« Sie machte eine vage Bewegung.
»Ihr wart sehr beschäftigt«, sagte der Herr der Verbannten. »Das ist nicht so schlimm. Aber wir haben einen Pakt geschlossen, und nun ist der rechte Zeitpunkt gekommen, ihn in Kraft treten zu lassen.«
»Ich bin nicht mehr Königin von Harabec. Ich habe keinerlei Macht.«
»Der Himmel sagt etwas anderes. Die Nacht hat Euretwegen nicht mehr dasselbe Gesicht.«
Marikani seufzte. »Das nützt mir wenig! Glaubt mir, Herr der Verbannten, ich bin diejenige, die jetzt Verbündete suchen muss.«
Der Mann nickte. »Prinzessin … Marikani … Ayesha, wer Ihr auch seid: Die Zeit der Verbannten ist abgelaufen. Wisst Ihr, was man den Claesen vor dreihundert Jahren zur Zeit der großen Missernten angetan hat?«
Die Claesen von Reynes lebten in einem eigenen Viertel; der Hohepriester hatte es ihnen damals untersagt, dieses Viertel zu verlassen. Um zu überleben, hatten sie Handel getrieben und als Geldverleiher gewirkt. Als die Große Hungersnot ausgebrochen war, hatten die Stadtbewohner wahnsinnig vor Hunger und auf der Suche nach Sündenböcken jeden einzelnen Claesen niedergemetzelt.
»Das weiß ich.«
»Wir werden diese Krise nicht überleben. Es sei denn, ich handle schnell.«
»Was wollt Ihr tun?«
»Nach Norden fahren«, sagte der Herr der Verbannten. »Dann werdet Ihr bessere Aussichten haben, die Küste zu
erreichen, und werdet auch nicht die Städte von Kiranya plündern müssen. Ich werde mein Volk über die Wasserläufe dort hinaufführen. Wir werden Euch mit Nahrung und Waffen versorgen. Im Gegenzug verlangen wir nur eines von Euch.«
Marikani musterte ihn stumm.
Der Herr der Verbannten wies nach Osten, zum Meer. »Dass wir mit Euch reisen dürfen.«
Der Tag verging mit Verhandlungen. Als es wieder Nacht wurde, kehrten Marikani und Bara unter das Zelt zurück. Die Verbannten hatten versprochen, sie am nächsten Morgen weit von Faez entfernt an Land zu setzen, so dass sie nur noch einen Reisetag von ihrem Lager entfernt sein würden.
Auf der Brücke sangen drei Frauen eine einfache, melancholische Melodie. Marikani saß eine Weile im Zelt auf dem Boden und zog die Knie eng an. Sie hätte sich freuen sollen. Sie hatte unerwartet Hilfe bekommen. Vielleicht enthielt ihr wahnsinniger Plan nun einen Funken Vernunft.
Aber sie spürte nichts, nur eine gewaltige Leere. Vor ihrem inneren Auge zogen Bilder gefolterter Körper vorüber.
Die Feuchtigkeit drang in alles ein: ins Zelt, in ihre Kleider. Bara kniete sich neben sie und legte ihr einen Wollschal um die Schultern.
»Ihr müsst schlafen«, sagte er leise.
Marikani schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Wir haben morgen einen langen Weg vor uns.«
Er begann, ihr sanft den Nacken zu massieren, dann die Schultern, aber Marikani hielt ihn auf. Sie durfte sich
nicht gehen lassen. Sonst würde sie zusammenbrechen und wie ein kleines Mädchen weinen.
»Ich habe das Gefühl, noch nie so allein gewesen zu sein«, flüsterte sie.
»Ich bin hier.«
Marikani drehte sich um. Baras Gesicht befand sich nahe an ihrem. Seine Augen. So blau … In seinem Blick lagen all die Wärme und Leidenschaft, die ihr fehlten.
Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sacht. Er sah sie ungläubig an und küsste sie dann seinerseits. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und spürte, dass er zitterte.
Baras Hemd war aus Leinen. Marikani strich darüber und begann dann, die Knöpfe einen nach dem anderen zu öffnen.
Zehn Stunden später rief Laosimba sie ins private Schreibzimmer des Hohepriesters von Reynes.
Das Zimmer lag im obersten Stockwerk des höchsten Tempelturms. Der Hohepriester war seit Monaten krank, und alle Macht lag bei Laosimba. Dass er sich das Schreibzimmer angeeignet hatte, war bezeichnend.
Die Wendeltreppe, die hinaufführte, wirkte unendlich lang, und noch schlimmere Müdigkeit als am Morgen lastete auf Lionor und Arekh. Beim ersten Mal hatte Neugier sie aufrecht gehalten - und auch schwache
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