Voll daneben
trägt ein Abendkleid, ein echtes Valentino-Modell, und ich habe einen Anzug von Oscar de la Renta an, der zu den elegantesten Kleidungsstücken gehört, die ich je getragen habe. Mom und ich haben schon tausend Komplimente bekommen, und dieses eine Mal scheint Dad zufrieden mit mir zu sein. Alle lächeln und nicken uns zu.
Als Dad aufsteht, um seine Rede zu halten, bin ich richtig aufgeregt. Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass der eigene Vater einen wichtigen Preis verliehen bekommt und ein Bankett zu seinen Ehren veranstaltet wird. Er trägt einen Frack, und er hat tatsächlich auf meinen Rat gehört, welchen Stil und welche Farbe er wählen sollte. Schwarz auf schwarz. Gerader Schnitt. Klassischer Stil.
Dad geht hinauf ans Podium und blickt in den riesengroßen Ballsaal. Tränen steigen ihm in die Augen.
»Heute Abend«, sagt er, »bin ich der glücklichste Mensch auf Erden. Nicht nur darf ich diesen wundervollen Preis entgegennehmen, sondern ich bin noch dazu von den Menschen umgeben, die ich am meisten liebe –«
Ich wage nicht zu atmen.
Bitte lass es diesmal geschehen.
L ass dies der Augenblick sein, an dem er es ausspricht.
»– der Gemeinschaft unseres Unternehmens. Ich kann mir wahrlich keine besseren Arbeitskollegen vorstellen als euch ...«
Ich höre auf, den Atem anzuhalten, und meine Lunge fühlt sich an, als würde sie gleich in sich zusammenfallen. Meine Augen brennen, und ich starre die Leute an, während sie Dad ansehen. Sie strahlen über sein Kompliment und lauschen gebannt seinen Worten. Sie himmeln ihn an, und er himmelt sie an. Es ist so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
Oder das Klingeln eines Handys in meiner Hosentasche.
Ich zapple auf meinem Stuhl herum, um es auszumachen, aber ich kann das verfluchte Ding nicht finden. Alle Blicke richten sich auf mich, und Dad sieht mich erbost vom Podium aus an, seine Augen versprühen Hass, aber das Handy klingelt immer weiter.
Tante Petes Telefon klingelt. Ich höre ihn in die Küche schlurfen und mache die Tür zu meinem Zimmer einen Spalt weit auf – und da steht er, in einem seidenen Kimono mit Trompetenärmeln und orangefarbenen, fersenlosen Socken.
Tante Pete arbeitet nachts bei dem Radiosender – von 21:00 Uhr bis 6:00 Uhr – und schläft dann tagsüber. Ich frage mich, wer so unhöflich ist, an einem Mittwochmorgen um zehn vor neun anzurufen, wenn Tante Pete eigentlich schlafen sollte.
Seine Augen sind halb zu, doch er nimmt ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann holt er eine Schachtel Cornflakes mit Schokolade aus dem Küchenschrank, schüttet ein paar in eine Schüssel und nimmt schließlich mit einer Hand den Hörer ab, während er mit der anderen nach den Würstchen für die Mikrowelle greift. »Hallo«, sagt er.
Ich weiß zwar nicht, was die Stimme am anderen Ende der Leitung sagt, doch Tante Pete flucht: »VERDAMMT!«
Den Hörer zwischen die Schulter und das Ohr geklemmt, reißt er die Tür zu meinem Zimmer auf. Dann kippt er die Cornflakes wieder in die Schachtel, wobei der größte Teil daneben geht. Er zieht groteske Grimassen, und mir ist klar, dass ich irgendwas machen soll, aber ich weiß nicht was.
»Die Schule«, flüstert er aufgebracht.
Schule ?, denke ich. Jetzt ?
Tante Pete winkt mich ins Badezimmer.
»Die Schule fängt heute an?«, frage ich.
»Ja«, formt er lautlos mit den Lippen. »In diesem Augenblick. Du bist spät dran.«
Verflucht.
Ich gehe ins Badezimmer und versuche, mich in Rekordzeit zu rasieren, aber jetzt ist das Ritual ruiniert. Ich höre, wie Tante Pete den Hörer auflegt. Er schreit: »Ich bin in zehn Minuten fertig.« Dann poltern Schritte den Flur entlang.
Vielleicht ist er in zehn Minuten fertig ...
Ich gehe davon aus, dass Pete jede Minute an die Badezimmertür klopfen wird, aber wie sich herausstellt, bin ich vor ihm fertig. Das liegt daran, dass er etwas sucht und dabei sein ganzes Zimmer auseinandernimmt. Auf den Knien wühlt er unter dem Bett herum, und es gibt eine Menge Zeug, durch das er sich durchgraben muss, denn in seinem Zimmer herrscht ein heilloses Durcheinander. Ich meine, es ist ein Saustall. Zwischen all dem Chaos ist nicht ein Zentimeter Boden zu sehen. Überall liegen Schallplatten und CDs, halb kaputte Plattenspieler und Keyboards und lauter so Zeug. Dazu Tüten von McDonald’s, die weiß Gott wie alt sind. Ich frage mich, was er wohl sucht, aber ich erfahre es schnell genug.
»Ich habe irgendwo einen großen braunen
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