Voll daneben
Umschlag«, erklärt Tante Pete atemlos. »Deine Mutter hat ihn per Express geschickt.Darin sind alle Unterlagen. Deine Zeugnisse, die vorübergehende Vollmacht für mich als Erziehungsberechtigten ... Mist! Wo habe ich ihn bloß hingelegt?«
Ich hätte nie gedacht, dass rechtliche Unterlagen eine Rolle spielen würden. Ich nehme an, Mom hat die Unterschrift meines Vaters gefälscht – das kann sie hervorragend –, und daher sind die Unterlagen wahrscheinlich wertlos. Aber ich glaube, ich sollte doch lieber reingehen und ihm beim Suchen helfen. Obwohl ich meine Lieblingsjeans und meine besten Schuhe von Skecher anhabe, wate ich in Tante Petes Schlafzimmer.
Eine ganze Weile suchen wir beide wie wild alles durch, aber als uns klar wird, dass der Umschlag so schnell nicht wieder auftauchen wird, höre ich auf zu suchen und beobachte Pete. Er ist völlig durcheinander, und ich wundere mich, warum es ihm so wichtig ist. Schließlich ist es nicht sein erster Tag in einer neuen Schule.
Ich mustere ihn so wie er mich mustert, wenn er glaubt, ich würde es nicht merken. Ich frage mich, wie alt er wohl ist. Er sieht aus wie um die fünfzig. Vielleicht auch fünfundfünfzig. Sein Gesicht ist voller Falten, und er wirkt insgesamt etwas zerrupft, aber nicht auf eine unangenehme Weise. Ich frage mich, warum er nicht femininer aussieht. Ich dachte immer, ein Typ, der sich gern wie eine Frau anzieht, würde sich wenigstens die Bartstoppeln abrasieren. Tatsächlich habe ich ihn – abgesehen von dem Kimono-Morgenmantel – bisher noch in keinen Frauenkleidern gesehen. Außer in dem roten Kleid, das an der Rückseite seiner Tür hängt, aber das ist schon lange her.
Ich muss grinsen, als ich das Kleid entdecke und mich an Moms Abschiedsfeier erinnere. Pete sieht, dass ich es betrachte, und hört auf, seinen Wäschekorb zu durchwühlen.
»Erinnerst du dich noch daran?«
Ich nicke. »Hattet ihr, Mom und du, den Auftritt geplant?«
Das wollte ich schon immer wissen.
Tante Pete zögert, dann lacht er. »Ja«, gibt er zu. »Wir hatten den Tag genau geplant. Wir hatten uns jedes Detail vorher überlegt ... wie sie mit meinen Eltern im Wohnzimmer sitzen würde, und wie das Dienstmädchen sich durch die Hintertür aus dem Zimmer schleichen und mich holen würde, sobald meine Eltern anfangen würden, deine Mutter fertigzumachen. Denn das würden sie zweifellos tun.«
»Also hast du die ganze Zeit im Auto gewartet?«
Er nickt. »Ja – nur wäre der Plan beinahe schiefgegangen, weil ich in der Eile, ins Haus zu stürmen, den Kleidersaum in der Wagentür eingeklemmt habe ...« Plötzlich zögert er und verstummt dann ganz. »Weißt du«, sagt er schließlich, »es war ein dummer Streich. Wenn wir gewusst hätten, wie dein Vater darauf reagieren würde, hätten wir es nicht getan. Ich meine, uns war klar, dass er wütend sein würde, aber wir konnten uns nicht vorstellen ...«
Mir fällt Dads Miene ein, als ich ihm sagte, ich würde zu Tante Pete statt zu seinen Eltern fahren.
»... dass er komplett ausrasten würde?«
»Ja«, nickt Peter. »Das volle Programm. Vor der Feier war mir nicht bewusst, wie ähnlich er unserem Vater ist, aber da war es schon zu spät. Danach durfte ich euch nie wieder besuchen. Deine Mutter und ich haben es total vermasselt.«
Ich wünschte, Tante Pete würde noch mehr erzählen, aber aus irgendeinem Grund tut er es nicht. Während sich das Schweigen in die Länge zieht, mustere ich das rote Kleid.
»Trägst du es noch?«, frage ich schließlich. »Ich meine das Kleid.«
»Nein. Ich habe es seitdem nicht mehr angezogen.«
Er betrachtet das Kleid, und seine Augen verraten eine leiseSehnsucht. Es ist ein Designermodell und immer noch wie neu – mehrere Schichten aus roter Seide. Er sieht es so an, wie die meisten Männer eine Corvette anschauen. Dann wendet er den Blick ab.
»Komm«, sagt er. »Wir müssen die Unterlagen finden.«
13
WIR FINDEN DIE UNTERLAGEN NICHT.
Nachdem wir das ganze Mobilheim dreimal durchsucht haben, gibt Tante Pete auf und geht deprimiert wieder ins Bett.
»Morgen gehst du in die Schule. Versprochen«, sagt er.
Das ist mir nur recht. Die Vorstellung, auf eine neue Schule zu gehen, versetzt mich nicht gerade in einen Taumel der Begeisterung. Das einzige Problem ist, dass ich heute einen ganzen Tag ohne SMS, E-Mails und Handy rumkriegen muss, weil alle meine Freunde in der Schule sind und Tante Pete keinen Computer hat, was absolut verrückt ist. Ich bin mir nicht
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