Voll erwischt
große Stadt war, sondern vielmehr, daß es erheblich größer war, als er erwartet hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was er nun eigentlich erwartet hatte - jedenfalls nicht, daß er aus dem Zug auf einen kleinen hölzernen Bahnsteig treten und eine Stadt mit Feldern drumherum vor sich sehen würde. Vielleicht einen alten Bahnhofswärter mit einem weißen Bart, ein taperiger alter Sack. Und Norman würde zu ihm gehen und fragen, wo Schneewittchen wohnte, und der Bursche würde antworten: «O ja, Schneewittchen. Die wohnt in dem Haus auf dem Berg.»
Tja, das hatte er erwartet. So was in der Richtung.
Nicht erwartet hatte er jedoch einen Bahnhof mit mehreren Bahnsteigen, modernen Zügen, und, wenn man den Bahnhof verließ, moderne Autos und Geschäfte und Tausende Menschen, die in der Stadt herumliefen und von denen viele mit fremdländischen Akzenten redeten. Nicht einfach nur fremdländische Akzente aus dem nördlichen England, sondern richtige deutsche und japanische und amerikanische Akzente. Das hatte er nicht erwartet, und ebensowenig hatte er all diese neu aussehenden Hotels mit ihren Glasfassaden erwartet, in denen all die Leute abstiegen.
Norman war überrascht über York, und nachdem er eine oder zwei Stunden herumgewandert war, war er angenehm überrascht. Es war eine Stadt, in der man untertauchen konnte, und das war ein ausgesprochen gutes Gefühl.
Das einzige Problem war nur: wie würde er Schneewittchen finden? Norman war nicht mal sicher, ob er sich überhaupt die Mühe machen wollte, Schneewittchen zu finden. Angesichts der Aussicht, ihr weh zu tun, hielt er es aber durchaus der Mühe wert. Andererseits hatte er das Gefühl, daß sich ihm eine gänzlich neue Welt eröffnete, und die wollte er sich nicht gleich durch Aspekte der Vergangenheit verbauen.
Bereits an seinem ersten Tag in York entdeckte Norman, daß er der einzige Tourist ohne Fotoapparat war. Dies wurde ihm klar, als er einer Gruppe von, wie er meinte, Skandinaviern und Amerikanern einen künstlich angelegten Hügel namens Clifford’s Tower hinauf folgte. Als sie oben auf dem Hügel ankamen, klickten die Kameras und alle bis auf Norman betrachteten die Welt durch einen Sucher. Einen Moment lang wußte Norman nicht, was er tun sollte. Er versuchte sich an seinen Kurs in Dartmoor über Sozialverhalten zu erinnern, und obwohl er wußte, daß eine ganz ähnliche Situation diskutiert worden war, konnte er sich einfach nicht mehr genau erinnern, was zu tun war. Während Norman sich noch den Kopf zermarterte, registrierte er, daß der Fremdenführer über Wilhelm den Eroberer redete.
Wilhelm der Eroberer war hiergewesen. Der Bursche hatte auf diesem Berg tatsächlich eine Festung errichtet. Hier war es auch zu Ausschreitungen gegen einige Juden gekommen, zu Schlachten, und irgendwann hatte jemand das Dach in die Luft gejagt. Norman konnte sich nicht erinnern, schon mal irgendwo gestanden zu haben, wo Wilhelm der Eroberer oder eine dieser anderen historischen Gestalten bereits gestanden hatte. Das vermittelte ihm eine Weile ein ganz eigenartiges Gefühl und Jieß ihn völlig vergessen, daß er der einzige ohne Kamera war.
Auf dem Weg zurück hinunter schlich er sich an den Fremdenführer heran und fragte: «Wann war das noch mal gleich? Das mit Wilhelm dem Eroberer und alles?»
«Zehn Sechsundsechzig», antwortete der Fremdenführer.
«Jesus», sagte Norman, wurde aber vom Anblick einer Japanerin abgelenkt, die am Fuß des Hügels eine Nikon mit einem gigantischen Objektiv ins Gras legte. Sie ließ sie einfach so da liegen. Legte sie ins Gras und rannte ihren Kindern hinterher.
Und so entfernte sich Norman der Tourist vom Clifford’s Tower, über der Schulter eine Kamera, die er vermutlich nie bedienen konnte, Schlenderte an der Feuerwache vorbei und von dort weiter ins Stadtzentrum.
Himmel, York war die Stadt, wo man einfach sein mußte! Kein Wunder, daß Wilhelm der Eroberer hergekommen war. Allerdings absolut nicht erstaunlich, denn wie der Fremdenführer schon gesagt hatte: der alte Wilhelm war ein Normanne.
Nacht.
Nachmittags hatte Norman sich ein Zimmer in einer Pension genommen, die von einer Mrs. Lee geführt wurde. Eine Frau mittleren Alters mit einer dicken Brille und ohne Ehemann. Ein Kind irgendwo auf einem Internat. Machte diesen Job seit zehn Jahren, fünf Jahre in Brighton und fünf Jahre in York. Sie hatte ihm auch noch eine Unmenge anderer Sachen über sich erzählt, schien ihren Mund einfach nicht
Weitere Kostenlose Bücher