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Voll erwischt

Voll erwischt

Titel: Voll erwischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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sanften Kurven, Knochen und Muskeln begegnen Fettablagerungen, dachte sie, während sie gleichzeitig erkannte, daß Geordie keine echte Substanz besaß. Er war körperlich da, aber er war die Jugend. Seine Stärke und sein Gewicht basierten eher auf Unschuld als auf Erfahrung. Was er anzubieten hatte, war nur eine Geste. Und Marie klammerte sich in einer Verzweiflung daran, die sie sich bislang noch nicht eingestanden hatte.
    «Ich glaube, er hat dich sehr geliebt», sagte Geordie wieder. «Ich bin ganz sicher.»
    Marie trat einen Schritt zurück und legte einen Zeigefinger auf Geordies Lippen. «Ich weiß», sagte sie. «Du brauchst mich nicht zu überzeugen.» Sie nahm Geordies Hand und führte ihn in die Küche. «Oh», sagte sie und rieb mit den Handballen ihre Augen. «Ich wollte uns was zu trinken holen, aber eigentlich will ich viel lieber ausgehen. Wie wär’s, wenn ich noch ein paar Taschen mit Kleidern vollmache, und dann gehen wir zusammen zum BHS-Laden? Anschließend gehen wir zu Betty’s, trinken Kaffee und essen Kuchen. Wie wär’s mit Schokoladenkuchen?»
    «Ja», sagte Geordie. «Ich hab kein Geld, aber...»
    «...Ich schon», sagte Marie.
    Und sie schaute zu, wie er zwei große Stücke Schokoladentorte verdrückte, die in einem Meer aus Sahne schwammen, während sie nur an einem herumpickte. Außerdem trank er zwei große Kaffee mit Zucker und Milch, während sie an einem kleinen schwarzen nippte. Und noch beim Zuschauen wußte sie, daß sie deswegen morgen mindestens drei Pfund zugenommen haben würde, während er wahrscheinlich noch weniger wog als heute. So lief’s in der Welt. Es gab keinen Gott, nur Chaos.
    «Ich hasse dünne Menschen», sagte sie.
    «Ist nicht meine Schuld», protestierte Geordie. «Ich kann nichts dafür, daß ich so dünn bin.»
    «Ich auch nicht», sagte sie. «Nichts dafür, meine ich. Ich hasse dich.» Sie lachte, bezahlte die Rechnung und wurde sich schließlich und unwiderruflich bewußt, daß sie immer wenigstens ein bißchen übergewichtig sein würde. Es gab gewisse Dinge in der Natur, an denen man einfach nichts ändern konnte. Oder wenn man sie änderte, dann waren sie nur von kurzer Dauer. Am Ende kehrten sie wieder in den Zustand zurück, in dem sie ursprünglich gewesen waren. In Maries Fall bedeutete das: Fett.
    Sie verließ Geordie an der Ecke Coney Street und kehrte in die Church Street zurück, wo sie ein Geschäft kannte, das Süßigkeiten zu Schleuderpreisen verkaufte. Sie kaufte Mars-Riegel, genau vierzehn Stück. Ein Viertel geröstete Mandeln. Eine Tüte Schokoladenkekse. Eine riesige Toblerone. Und, einem nachträglichen Einfall folgend, eine kleine Schachtel Pfefferminzwäffelchen.
    «Schmeißen Sie eine Party?» erkundigte sich die Frau hinter der Ladentheke, als sie die Toblerone in die Plastiktüte steckte. Sie hatte Polypen und sprach daher nur selten. Wenn sie doch mal mehr als ein Wort von sich gab, wußte man, daß sie einen offensichtlich mochte.
    «Nein», antwortete Marie. «Ich werde mal so richtig nach Herzenslust naschen.»
    «Schön», sagte die Frau und reichte die Tüte über die Theke. «Sehr schön.» Als Marie die Tür erreichte, wiederholte die Frau es immer noch, schmückte es inzwischen großzügig aus; hätte sie Flügel, würde sie fliegen: «Wirklich ausgesprochen schön.»
    Betty’s war nur halbvoll gewesen. Und Betty’s war üblicherweise gerammelt voll. In dem Süßwarenladen stand immer eine Schlange; nicht so heute. Über der Stadt lag eine deutlich spürbare Angst. Eine Anspannung, die von den Menschen ausging, aber gleichzeitig war sie auch so greifbar, daß man meinte, sie stecke in den Wänden der Häuser. York hatte in seiner langen Geschichte schon viel Gewalt und Schrecken erlebt, aber Gewalt in einem historischen Kontext ist annehmbar. Doch dies war jetzt, und es fühlte sich sehr anders an.
     
    Dann war das also geklärt. Sie würde mit Geordie Zusammenarbeiten. Sie würden gemeinsam die Stadt durchkämmen. Den Mann suchen. Er kleidete sich modisch. Bevorzugte eher knapp sitzende als zu weite Kleidungsstücke. Er hatte einen kleinen Bart. Sie sah die Skizze an, die Geordie im Betty’s angefertigt hatte. «Irgendwas fehlt da», hatte Geordie gesagt. «Ich meine, er sieht schon genauso aus, so ungefähr wenigstens. Aber er hat noch was anderes, so was wie eine Aura, etwas Elektrisches. Man spürt, wie es von ihm ausstrahlt, wenn man näher herankommt oder wenn er einen ansieht. Die meisten Menschen haben so

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