Voll erwischt
etwas nicht, oder wenn sie’s haben, dann ist es nur ganz schwach vorhanden. Bei diesem Typ ist es sehr stark ausgeprägt. Man würde nicht mit ihm allein sein wollen, wenigstens nicht im Dunkeln. Verstehst du, was ich meine? Elektrisch.»
Marie wußte nicht, das Geordie meinte. Sie vermutete, daß er Ausstrahlung meinte, denn Norman besaß Charisma. Was Geordie aber nicht erkannte, war, daß Normans Elektrizität in engem Zusammenhang mit einer tiefen Sexualität stand. Einer tiefen Sexualität gepaart mit einer fast grenzenlosen Gewaltbereitschaft.
Marie saß noch sehr lange vor dem Fernseher. In ihrem Hinterkopf nagte ein leichter Kopfschmerz, und sie meinte, schlafen zu können. Um halb zwei morgens rief sie Celia an, weil sie glaubte, wahnsinnig zu werden, wenn sie nicht mit jemandem redete. Celia meldete sich sofort.
Celia hörte ruhig zu, während Marie sagte, wie leid es ihr tue, so spät noch anzurufen, aber sie brauche jemanden zum Reden. Dann sagte Celia: «Ich empfinde exakt das gleiche, meine Liebe. Ich habe versucht zu schlafen und mußte doch immer wieder an Gus denken, und etwa die letzte halbe Stunde habe ich an Sie gedacht. Ich wollte gerade ein kleines Gebet sprechen und dann noch einmal versuchen einzuschlafen. Möchten Sie vorbeikommen?»
«Ist das denn okay?» fragte Marie.
«Ich setz den Kessel auf den Herd», antwortete Celia. «Mach uns eine schöne Tasse Tee. Er wird fertig sein, wenn Sie hier ankommen.»
Marie legte den Hörer auf und schnappte sich einen Mantel. Sie ging ins Bad und schüttete WC-Reinigungsmittel in die Toilettenschüssel, um etwas gegen den scharfen Geruch nach Erbrochenem zu tun. Sie vergewisserte sich, ob sie einen Schlüssel eingesteckt hatte, und verließ das Haus. Ein kleines Gebet? dachte sie. Warum nicht? Alles andere hatte nicht funktioniert.
Celia war kreidebleich, trug keinerlei Make-up, und wie bei vielen älteren Menschen hatte die Nacht ein Wenig von ihrer körperlichen Präsenz genommen, wodurch sie zierlich, geschwächt und fast ätherisch wirkte. Sie gab Marie ein Küßchen auf die Wange und führte sie ins Herz des Hauses. Um Celias Sessel verteilt lagen mehrere Bücher, einige Romane in Taschenbuchausgaben, aber auch drei Bände mit ernsten, religiösen Schutzumschlägen, wenigstens einer davon eine Bibel. Hinter Celias Sessel befand sich eine hohe Stehlampe, aber auf dem Eßtisch brannte eine Kerze, und zu diesem Tisch ging Celia nun. Marie folgte ihr. Sie setzten sich an eine Ecke des Tisches, und Celia griff herüber und nahm Maries Hände. Sie lächelte herzlich.
«Es ist die Hölle, wenn man nicht schlafen kann», sagte sie. «Die Nacht scheint nie mehr aufzuhören.»
«Hört nie auf», stimmte Marie zu. «Ist so lang wie ein schlechter Roman.»
Celia drückte ihre Hand. «Sie können immer zu mir kommen», sagte sie. «In meinem Alter schläft man ohnehin nicht mehr besonders gut. Zu viele Sünden der Vergangenheit, mit denen man fertig werden muß.» Sie lachte, denn es war ein Scherz. «Im Ernst, Sie werden in den kommenden Nächten mit Sicherheit jemanden brauchen. Denken Sie gar nicht lange darüber nach, rufen Sie mich einfach an und kommen Sie dann sofort zu mir. Ich weiß, was es heißt, allein zu sein.»
Celia war nie verheiratet gewesen. Sie hatte bei ihrer Mutter gewohnt und sie gepflegt, bis die alte Dame starb, und seitdem lebte sie allein. Sie nannte es nicht alleine leben. Sie hatte ihre Bücher und ihre Musik, und einen bedeutenden Teil ihrer Zeit verbrachte sie als praktizierende Quakerin. Sie hatte ihre Freunde, und ihr Umgang mit Sam und Geordie erinnerte sie ständig daran, daß zum Leben auch eine gehörige Portion Phantasie gehörte, die bedauerlicherweise bei ihren früheren Erfahrungen nur zu oft gefehlt hatte, wofür sie aber heute fest entschlossen war, verlorene Zeit aufzuholen.
«Tagsüber kann ich mich schon irgendwie durchwursteln», sagte Marie. «Aber nachts ist es anders. Ich werde zu einem völlig anderen Menschen, sobald es dunkel wird. Ich besitze nicht mehr die gleiche Widerstandskraft. Mein Vater war auch so. Wenn er Nachtschicht hatte, war er ständig unglücklich, machte meine Mutter und mich und meine Schwester ebenfalls unglücklich. Wenn er tagsüber arbeitete, waren wir eine ausgesprochen glückliche Familie, doch sobald er nachts raus mußte, war es die reinste Hölle.»
«Sehen Sie sie häufig?» fragte Celia. «Ihre Familie?»
Marie schüttelte den Kopf. «Dad ist gestorben, als ich
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