Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
investiven Charakter hatten. Der Grund dafür war einfach genug: Die deutsche Industrie war zwar kriegszerstört (und dies im Übrigen viel weniger, als ursprünglich vermutet!), aber die Wachstumsmotoren der Wirtschaft aus der Vorkriegszeit waren unverändert vorhanden: hoch qualifizierte Fachkräfte, technische Hochschulen, ein duales Bildungssystem, Zugänge zum Weltmarkt und vieles andere mehr. 154 In dieser Situation genügte ein einmaliges Investitionsprogramm, um wirksam zu helfen, und der Marshall-Plan lieferte es. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigte sich, dass die Lage im Osten Deutschlands und Europas viel schwieriger war – im Sinne eines breiten „Flurschadens des Sozialismus“, den die vom Weltmarkt isolierte Planwirtschaft hinterlassen hatte. Und heute zeigt sich in ähnlicher Weise die fehlende industrielle Basis der südlichen Peripherie Europas. Bei dieser Art von Herausforderung scheitert das Modell der einmaligen Investitionsförderung.
Es bleibt dann eigentlich nur die politische Alternative zwischen zwei Wegen. Der eine ist die hier beschriebene Wachstumsunion, also der Versuch, an der Wurzel der fehlenden Konvergenz anzusetzen – durch einen Kurswechsel bei der EU-Regionalpolitik und mit viel Ausdauer und Geduld, was die Ergebnisse des Kurswechsels angeht. Der andere besteht darin, weiterzumachen wie bisher oder gar die wenig wirksame bisherige Regionalpolitik zu streichen. Wirtschaftlich könnte dies in der Hoffnung geschehen, dass irgendwann doch der Standortwettbewerb zu einer Revitalisierung der Peripherie führt, auch ohne Unterstützung von außen. Diese Hoffnung hat allerdings keine überzeugende faktische Grundlage. Dies gilt vor allem auch mit Blick auf die künftigen Kräfte der Globalisierung: Der Aufstieg großer Entwicklungs- und Schwellenländer zu neuen Industrieregionen wird es für alle Länder in Europa immer schwieriger machen, sich auf Segmente der Billigproduktion zu spezialisieren. Denn diese Plätze in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung werden zunehmend von den dynamischen Neuankömmlingen vor allem aus Asien besetzt. Die Marktkräfte der Weltwirtschaft drohen also, die Divergenz in Europa eher noch zu akzentuieren.
Für künftige europapolitische Empfehlungen kommt es somit ganz entscheidend darauf an, ob man eine solche Entwicklung der zunehmenden Divergenz für harmlos oder für gefährlich hält. Das Urteil darüber und seine Begründung gehen zwingend über rein ökonomische Fragen hinaus. Sie betreffen grundsätzliche Fragen der Vision eines künftigen Europa. Und sie betreffen dabei vor allem auch die wirtschaftliche und politische Führungsrolle Deutschlands in einem Europa, das seinen Platz in der künftigen globalen Arbeitsteilung finden und verteidigen muss.
3.5 Deutschlands neue Führungsrolle
Die Erweiterung der Europäischen Union in den letzten beiden Jahrzehnten hat die Rolle Deutschlands grundlegend verändert. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, das Gewicht des Landes hätte dabei relativ abgenommen: Zwar sorgte die deutsche Wiedervereinigung 1990 für eine Vergrößerung des Landes selbst, sodass es von nun an in der Bevölkerungsgröße eindeutig an der Spitze stand. Doch stieg anschließend die Zahl der Mitgliedsländer Schritt für Schritt von zwölf auf 27 an und erreicht 2013 mit dem Beitritt Kroatiens die Zahl 28. Die Union wuchs also weit schneller als Deutschland selbst, egal an welcher Maßzahl man dies festmacht. Insofern teilte Deutschland trotz Wiedervereinigung das arithmetische Schicksal aller älteren Mitgliedsländer, die bei weitgehend unveränderter Bevölkerungsgröße eindeutig eine Abnahme ihres relativen Gewichts in der Union zu beklagen hatten, von Frankreich über Italien bis zu Großbritannien und Spanien.
Lange Zeit schien die wirtschaftliche Konvergenz in der Europäischen Union, die zu beobachten war, diesen deutschen Gewichtsverlust sogar noch ökonomisch zu akzentuieren. Deutschlands langsames Wirtschaftswachstum, seine Konzentration auf den Aufbau Ost sowie seine schwierigen internen Reformprozesse stellten zunehmend jene Führungsrolle infrage, die von vielen internationalen Beobachtern Anfang der 1990er-Jahre vom wiedervereinigten Deutschland erwartet worden war, zum Teil mit einem skeptischen Seitenblick auf historische Erfahrungen. Spätestens mit dem Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts hat sich dies grundlegend verändert. Hauptanlass dafür ist die europäische
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