Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
deren Erfolg außerordentlich komplexe Phänomene, die sich der direkten empirischen Messung entziehen. Zum anderen stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Alterung und Innovationskraft in der Vergangenheit noch nicht wirklich mit Brisanz, sodass die wissenschaftliche Erforschung auch nicht mit Nachdruck vorangetrieben wurde. Dies beginnt sich erst in jüngster Zeit zu verändern, aber bis heute ist unser Wissensstand noch sehr lückenhaft. Jedenfalls sind die Lektionen, die wir aus den vergangenen vier Jahrzehnten der Alterung lernen können, eng begrenzt. Bestenfalls lässt sich aus der bisherigen Entwicklung schließen, dass es zu einem extremen Pessimismus kaum Anlass gibt, denn die deutsche Wirtschaft hat den bisherigen Prozess der Alterung ihres Personals eigentlich sehr gut verdaut, ohne gesamtwirtschaftlich erkennbaren Einbruch an Innovationskraft. Allerdings geschah dies eben zu einer Zeit, in der trotz steigendem Durchschnittsalter der Erwerbstätigen über lange Zeit ein steter Zufluss an jungen, gut ausgebildeten Menschen gewährleistet war. Wirkliche Engpässe gab es nicht. Genau dies ist die Kehrseite der relativ hohen Arbeitslosigkeit. Sie erlaubte den Unternehmen, immer wieder „aus dem Vollen zu schöpfen“.
Die zentrale Frage für die Zukunft ist: Was geschieht, wenn dieser stete „Zustrom an jungen Köpfen“ versiegt? Psychologen und Arbeitsökonomen haben mit ihren Forschungen ein erstes Raster zur Beantwortung dieser Frage geliefert, zumindest, was die wirtschaftliche Leistungskraft einzelner Altersgruppen in Beschäftigung betrifft. 89 Startpunkt ist dabei die sogenannte Altersproduktivitätskurve. Sie beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Alter eines Beschäftigten und der Produktivität, die er am Arbeitsplatz erzielt. Es gibt inzwischen eine Fülle von Studien über diesen Zusammenhang, und die Ergebnisse deuten auf eine Art „Buckelform“ hin: Nach dem Eintritt ins Berufsleben steigt die Produktivität zunächst mit dem Alter an, erreicht dann im Alter zwischen 30 und 50 Jahren ihren Höhepunkt und nimmt dann bis zum Beginn des Ruhestands ab. Dieses Bild ist dabei überaus robust. Es zeigt sich in einer Vielzahl von Berufen und Branchen, also nicht nur in jenen Tätigkeiten, bei denen die im Alter abnehmende physische Körperkraft eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings erlaubt es noch keine aussagekräftige Quantifizierung der Alterswirkung. Zu unterschiedlich sind die untersuchten Industrien und Arbeitsumstände sowie die Methodiken – von der Auskunft über die individuelle Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bis hin zum Versuch, die Arbeitsproduktivität in Firmen in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Belegschaft nach Alter zu schätzen. 90 Jede einzelne dieser Untersuchungen hat dabei ihre eigenen (und sehr unterschiedlichen) Grenzen und Probleme. In der Summe bleibt aber festzuhalten, dass gerade die Abnahme der Leistungsfähigkeit ab etwa dem 50. Lebensjahr als Faktum recht gut gesichert ist.
Auch über die Gründe für diesen Befund gibt es wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse. In körperlich anstrengenden Berufen spielt offenbar das Nachlassen der Muskel- und Körperkraft sowie der physischen Belastbarkeit eine zentrale Rolle. Allerdings verliert dies im volkswirtschaftlichen Trend an Bedeutung, weil durch technischen Fortschritt und Strukturwandel der Anteil der rein körperlichen Tätigkeiten abgenommen hat und wahrscheinlich noch weiter abnehmen wird. 91 Im breiten Spektrum der „Kopfarbeit“, die im Wirtschaftswachstum an Bedeutung gewinnt, geht es dagegen vor allem um die kognitiven Fähigkeiten. Sie sind nach aller Erkenntnis von überragender Bedeutung für die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz. Dabei wird zwischen zwei Arten unterschieden, die sich mit zunehmendem Alter ganz unterschiedlich entwickeln. Sogenannte „fluide“ kognitive Fähigkeiten – schnelle Auffassungsgabe, originelle Problemlösung, lernbereite Flexibilität – nehmen mit dem Alter ab; „kristalline“ Fähigkeiten – sprachliche Gewandtheit, Blick für das Wesentliche, Breite des Wissens – nehmen zu oder bleiben zumindest konstant. Soweit nun eine Abnahme der Arbeitsproduktivität mit dem Alter festzustellen ist, lässt sie sich weitgehend auf den Rückgang der „fluiden“ Fähigkeiten zurückführen. 92 All dies legt den Schluss nahe, dass das Leistungspotenzial einer alternden Gesellschaft pessimistisch beurteilt werden muss. Dies gilt
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