Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Forschungsintensität, wie sie in Deutschland, Österreich oder Schweden üblich ist. Auch den hochproduktiven Fernhandel, dem extrem offene Länder wie Belgien und die Niederlande einen beträchtlichen Teil ihres Reichtums verdanken, gab es in Irland nicht. Was allerdings neben der Industrie entstand, das war eine aufgeblähte Bankenwelt, die im Großraum der Hauptstadt Dublin als Zentrum der globalen Offshore-Finanzdienstleistungen ein übergroßes Rad drehte, vergleichbar mit dem atlantischen Inselnachbarn Island. Eine massive Immobilienblase im relativ kleinen Irland tat ein Übriges. Die Binnenwirtschaft boomte.
Wir wissen heute: All dies war nicht nachhaltig, Boom und Blase platzten, genau wie im benachbarten Island, und auch Irland stürzte ab 2007/08 in eine tiefe Krise. Es wurde schließlich Kandidat für den Euro-Rettungsschirm, steckt derzeit mitten in einer schweren Anpassungskrise und kämpft mit hoher Arbeitslosigkeit und hohen Defiziten im Staatshaushalt. Der Kampf ist nicht ohne Erfolg, aber dramatisch. Licht am Ende des Tunnels wird sich wohl erst in einigen Jahren zeigen. Der irische Tiger ist also gestrauchelt.
Wirklich? Glaubt man den Statistiken der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, steht Irland immer noch deutlich vor Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Schweden. Nun gut, der Abstand ist kleiner geworden, als er Mitte des letzten Jahrzehnts war, aber er hat überlebt – und dies, obwohl Irland in fast allen sonstigen Indikatoren der Entwicklung nicht ganz an diese Gruppe hoch entwickelter Industrienationen heranreicht. Vielleicht ist also doch noch was übrig von der Blase der Vermögenswerte und schlägt sich auf verschlungenen Datenwegen in der gemessenen Wertschöpfung nieder. Vielleicht stecken in der Messung der volkswirtschaftlichen Produktion überhaupt Fehlerquellen, die wir trotz allen Fortschritts der Wissenschaft noch nicht wirklich erkennen. Fragen über Fragen, aber keine überzeugenden Antworten.
An diesen Mängeln wird sich in den nächsten Jahrzehnten so schnell nichts ändern, denn es geht beim Aufbau von Innovationskraft um sehr langwierige Prozesse. Europa wird also auf absehbare Zeit wirtschaftlich ein gespaltener Kontinent bleiben. Die Europäische Union steht tatsächlich vor einem Abschied von Illusionen, die den Integrationsprozess – ökonomisch, gesellschaftlich und politisch – über Jahrzehnte begleitet haben. Nun mag man einwenden, in der Geschichte Europas sei dies eigentlich überhaupt nichts Ungewöhnliches, denn es hätte auch zu früheren Zeiten Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Regionen des alten Kontinents gegeben; und trotzdem sei das Wirtschaftsleben auch in den schwächeren Regionen weitergegangen, bis diese dann selbst irgendwann zum Aufholen oder gar zum Überholen ansetzten. Prominente Beispiele gibt es zuhauf. So wurden – nach allem, was wir wissen – in den norditalienischen und flandrischen Städten des späten Mittelalters und der Renaissance, von Florenz und Venedig bis zu Brügge und Gent, weit höhere Einkommen erzielt, als dies im übrigen Europa üblich war. In der frühen Neuzeit zog dann Holland dem Rest davon, im Zuge der Industrialisierung war es ab dem späten 17. Jahrhundert England, später folgten dann auch Deutschland und Frankreich. Immer gab es europaweite Gefälle von beachtlicher Größenordnung. 138 Warum sollte dies heute anders laufen? Und warum sollten wir darüber besorgt sein? Die Antwort lautet: wegen der Mobilität der Menschen.
3.2 Die mobile Generation
Eine der großen humanitären Errungenschaften der Europäischen Union ist die Freizügigkeit. Jeder EU-Bürger kann seinen Wohnsitz und Arbeitsort grundsätzlich frei wählen, unabhängig von nationalen Grenzen. Die Freizügigkeit gehört zu den klassischen Freiheiten, die traditionell von demokratisch verfassten Nationalstaaten ihren Bürgern innerhalb ihrer territorialen Grenzen garantiert werden. Sie ist – neben dem Freihandel von Waren und Dienstleistungen sowie dem freien Kapitalverkehr – eines der drei konstitutiven Merkmale der Europäischen Union als sogenanntem Gemeinsamen Markt. Sie auf Dauer abzuschaffen oder einzuschränken wäre ein Bruch mit dem „acquis communautaire“, der in Geist und Gesetz die Grundlage der EU darstellt. In der Vergangenheit gab es tatsächlich nur temporäre Beschränkungen, und zwar bei der Aufnahme neuer Mitgliedsländer, deren (mobile) Arbeitskräfte noch für einige Jahre
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