Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
Aber um welchen Preis? Sarrazin war dabei, das geistige Klima in Deutschland zu verschlechtern, gleichzeitig prahlte er unverhohlen mit seiner ersten Million, die er durch sein Buch verdient hatte. Und er ließ keine Gelegenheit aus, weiter Öl ins Feuer zu gießen. »Produktive Beiträge von Migranten ließen sich in Deutschland allenfalls im Gemüsehandel messen«, lautete eine seiner in Talkshows gernegeäußerten Weisheiten, die zu beweisen er allerdings nie in der Lage war. Ich hatte immer den Verdacht, dass er nur halbseriöse Statistiken zur Untermauerung seiner Provokationen bemühte. Das Wirtschaftsministerium kam zum Jahresende 2011 mit Zahlen an die Öffentlichkeit, die Sarrazins Lügengeflecht entlarvten. In Deutschland gab es demnach dreimal mehr Firmengründungen durch Migranten als durch einheimische Bürger.
Dass ein gescheiterter Banker die deutsche Bevölkerung ungestraft in gut und böse einteilen durfte, dass der Begriff »Unterschicht« wieder zur Abqualifikation einer großen Gruppe herhalten konnte, konnte ich nie akzeptieren. Die Tatsache, dass Millionen Ausländer und Migranten der zweiten und dritten Generation in Deutschland friedlich leben und über geregelte Einkünfte verfügen, wurde in Sarrazins einseitig instrumentalisierten Statistiken einfach unterschlagen. Vielleicht wäre uns ein Teil dieser Brunnenvergiftung erspart geblieben, wenn wir früher Zugriff auf vertiefende und seriöse Studien gehabt hätten. 70 Prozent der in Deutschland lebenden Türken sprechen sehr gut oder gut Deutsch und der demografische Wandel lässt diese Zahl jährlich ansteigen. Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität konnten keine der Thesen Sarrazins erhärten, im Gegenteil. Der konstruierte Zusammenhang zwischen Kriminalität und Islam konnte in keiner Studie nachgewiesen werden. Gewalt hingegen hat seinen Ursprung viel häufiger in familienkulturellen Umständen, so die Veröffentlichungen im Januar 2011. Ich bin noch heute erstaunt, mit wie viel Chuzpe dieser Mann seine selbst an die Rassenlehre des Nationalsozialismus angelehnten Theorien verbreiten durfte. In einem Land, das in seiner ideologischen Verblendung so viel Leid über die Menschheit gebracht hatte, konnte einerwie Sarrazin ungestraft über die »genetische Identität der Juden« mutmaßen. Was wundere ich mich darüber, wo wir es doch bis heute nicht mal geschafft haben, ihn aus der SPD auszuschließen! »Ich nehme mein SPD-Parteibuch mit ins Grab«, sagte Sarrazin in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung . Die Selbstherrlichkeit dieses selbsternannten Gesellschaftsverbesserers empfinde ich immer noch als impertinent. Auch wenn er einige Passagen seines Buches bereinigen musste: Seiner Grundeinstellung ist er treu geblieben, wie ich einem Interview mit Welt Online vom 9. Januar 2012 entnehmen musste. »Ich habe die Gedanken, dass es Völker gibt, dass es angeborene Eigenschaften gibt, dass es nicht egal ist, wer in einer Gesellschaft Kinder bekommt oder nicht, dass es auch nicht egal ist, wer in eine Gesellschaft zuwandert, dass Zuwanderung die Gesellschaft immer verändert, und das nicht immer zum Besseren – das alles habe ich systematisch miteinander verbunden. Dass man überhaupt solche Gedanken hat, wird als Provokation empfunden.«
Er hat nichts dazugelernt, nichts verstanden, im Gegenteil: Er wird auch zukünftig polarisieren und ausländerfeindliche Stimmung machen, wenn es nur dem Verkauf seines Buches dient. In altbekannter Demagogie werden die Gegner einfach diffamiert: »Das ist die Wut der Pharisäer. Ich spreche etwas aus, was viele denken, sich aber zu sagen nicht trauen. Der Pharisäer ist ein Mensch, der schon etwas weiß, aber in festen Strukturen denkt und sie nicht gefährden will. Er will keine Fragen stellen, weil sie zu ungewollten Folgerungen führen könnten. Damit er weiter sein Leben als Pharisäer führen kann.«
Ich wehre mich dagegen, als Pharisäer bezeichnet zu werden, nur weil ich diesem streitbaren Zeitgenossen in all seinenAnsichten widerspreche. Viel zu leicht ist in dieser Diskussion immer die Tatsache übersehen worden, dass dieser Thilo Sarrazin als Berliner Finanzsenator eine Politik mit zu verantworten hatte, in der gnadenlos gestrichen wurde. Kahlschlagpolitik, die die sozialen Nöte Berlins von einem auf den anderen Tag verschlimmert haben. Ausgerechnet Berlins Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, der täglich dort arbeitet, wo Sarrazin die »parasitären
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