Vollendet (German Edition)
Ernte-Betreuerin, die Risa befragt, hält anscheinend jeden Wandler, ungeachtet seiner Leistungen im Begabungstest, für minderbemittelt. Die Frau trägt eine Bluse, die über und über mit Blättern und rosa Blumen bedruckt ist. Risa würde am liebsten mit einer Mistgabel auf sie losgehen.
»Hast du irgendwelche Fragen oder Probleme, meine Liebe? Jetzt ist der beste Zeitpunkt dafür.«
»Was geschieht mit den schlechten Teilen?«
Die Frage scheint die Frau aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Wie bitte?«
»Sie wissen schon, die schlechten Teile. Was machen Sie mit den Klumpfüßen und den tauben Ohren? Verwenden Sie die auch als Transplantate?«
»Hast du etwa was in der Art?«
»Nein, aber ich habe einen Blinddarm. Was geschieht damit?«
»Also, ein taubes Ohr ist besser als gar kein Ohr«, sagt die Betreuerin mit schier unendlicher Geduld, »und manchmal können sich die Leute einfach nicht mehr leisten. Und was deinen Blinddarm angeht, den braucht sowieso niemand.«
»Aber ist das nicht gegen das Gesetz? Sind Sie nicht verpflichtet, hundert Prozent eines Wandlers am Leben zu lassen?«
Das Lächeln ist vom Gesicht der Betreuerin verschwunden. »Also, genau gesagt sind es 99,44 Prozent, dabei ist so etwas wie der Blinddarm berücksichtigt.«
»Verstehe.«
»Unser nächster Punkt ist der Aufnahmefragebogen. Wegen deiner unorthodoxen Ankunft hattest du noch keine Gelegenheit, einen auszufüllen.« Sie blättert in der Akte. »Die meisten Fragen spielen im Moment keine Rolle … aber wenn du irgendwelche besonderen Fähigkeiten hast, solltest du es uns sagen – du weißt schon, falls du etwas gut kannst, was während deines Aufenthaltes hier für die Gemeinschaft wichtig sein könnte.«
Risa würde am liebsten aufstehen und gehen. Noch jetzt, am Ende ihres Lebens, gibt es diese eine, unvermeidliche Frage: Was taugst du?
»Ich habe ein wenig medizinische Erfahrung«, sagt Risa tonlos. »Erste Hilfe, Herzmassage.«
Die Frau lächelt sie zerknirscht an. »Also, wenn wir von etwas richtig viel haben, dann ist es medizinisches Personal.«
Sollte die Frau noch einmal also sagen, zieht ihr Risa eins über den Schädel. »Sonst noch etwas?«
»Ich habe im Waisenhaus oft auf der Säuglingsstation gearbeitet.«
Wieder dieses schmallippige Lächeln. »Tut mir leid. Keine Babys. Ist das alles?«
Risa seufzt. »Außerdem habe ich Klavier gespielt.«
Die Augenbrauen der Frau heben sich einen Zentimeter. »Wirklich? Du spielst Klavier? Also, das ist interessant …«
53. Connor
Connor will kämpfen. Er will sich danebenbenehmen und gegen jede Regel verstoßen, denn dann hat er es schneller hinter sich. Aber er hat zwei Gründe, dem Drang nicht nachzugeben. Erstens: Das ist genau, was sie von ihm erwarten. Und zweitens: Risa. Er weiß, wie schrecklich es für sie sein wird, wenn sie ihn zum Schlachthaus bringen. So nennen es die Jugendlichen hier: »Schlachthaus« – allerdings nie vor dem Personal.
Connor ist in seinem Schlafsaal eine Berühmtheit. Es erscheint ihm absurd und verrückt, dass die Jugendlichen ihn als eine Art Kultfigur betrachten, obwohl er doch nur ums Überleben gekämpft hat.
»Das meiste stimmt gar nicht, oder?«, fragt ihn der Junge, der im Bett neben ihm schläft, am ersten Abend. »Ich meine, du hast nicht wirklich einen ganzen Trupp JuPos mit ihren eigenen Betäubungsgewehren besiegt?«
»Nein! Hab ich nicht.« Doch Connors Antwort bringt den Jungen erst recht dazu, alle Gerüchte zu glauben.
»Die haben nicht wirklich ganze Autobahnen dichtgemacht, um nach dir zu suchen, oder?«, fragt ein anderer.
»Es war nur eine Autobahn – und die haben sie nicht dichtgemacht, das war ich. Sozusagen.«
»Dann stimmt es also!«
Es nützt nichts. Egal, wie er die Geschichte auch herunterspielt: Für die anderen ist und bleibt der Flüchtling aus Akron ein überlebensgroßer Held.
Auch Roland trägt seinen Teil dazu bei. Sosehr er Connor verachtet, schwimmt er nun auf dessen Berühmtheitswelle mit. Zwar ist er auf einer anderen Station, trotzdem erreichen Connor die wildesten Gerüchte, nach denen er mit Roland einen Hubschrauber gestohlen und hundert Wandler aus einem Krankenhaus in Tucson befreit hat. Connor überlegt, ob er den Kids sagen soll, dass Roland nichts Besseres zu tun hatte, als sie der Polizei auszuliefern, entscheidet dann aber, dass das Leben buchstäblich zu kurz ist, um sich noch einmal mit Roland herumzuschlagen.
Einen gibt es, der Connor tatsächlich zuhört und
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