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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Shusterman
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schweigsamsten. Das passt nicht zu ihm. Lev hätte wissen müssen, dass etwas im Busch ist. Von den zehn Geschwistern ist Lev mit seinen dreizehn Jahren der Jüngste, Marcus mit achtundzwanzig der Älteste. Er ist durch das halbe Land geflogen, um an Levs Zehntopferfest teilzunehmen, und doch hat er kaum getanzt oder geredet oder gefeiert. Dafür ist er betrunken. Lev hat Marcus noch nie betrunken gesehen.
    Nachdem die offiziellen Toasts ausgebracht sind und die Torte angeschnitten und verteilt ist, stellt sich Marcus neben ihn.
    »Glückwunsch, kleiner Bruder«, sagt er und nimmt ihn fest in die Arme. Lev riecht den Alkohol in Marcus’ Atem. »Ab heute bist du ein Mann. Irgendwie.«
    Ihr Vater sitzt ein paar Schritte entfernt am Kopf der Tafel und stößt ein nervöses Kichern aus.
    »Danke … irgendwie«, antwortet Lev. Er schaut zu seinen Eltern hinüber. Sein Vater wartet ab, was als Nächstes geschieht, und seine Mutter sieht so verhärmt aus, dass sich in Lev alles zusammenkrampft.
    Marcus mustert Lev mit einem Lächeln, dem jedes Gefühl abgeht. »Wie findest du das alles?«, fragt er Lev.
    »Toll.«
    »Na klar! So viele Menschen, und alle sind nur wegen dir hier! Ein erstaunlicher Abend. Wirklich erstaunlich!«
    »Ja«, sagt Lev. Er weiß nicht genau, wohin das Gespräch führen soll, aber ihm ist klar, dass Marcus auf etwas Bestimmtes hinauswill. »Es ist die beste Party meines Lebens.«
    »Und das ist verdammt richtig so! Die beste Party deines Lebens! Musst all die wichtigen Ereignisse, alle Partys in einer unter ein Dach bringen: Geburtstage, Hochzeit, Beerdigung.« Dann wendet er sich an ihren Vater. »Sehr effizient, was?«
    »Es reicht«, sagt der Vater leise, aber Marcus wird nur noch lauter.
    »Was? Ich darf nicht darüber sprechen? Ach so, richtig, das ist ja eine Party. Hab ich fast vergessen.«
    Lev will, dass Marcus aufhört, aber irgendwie auch nicht.
    Mom steht auf und sagt, lauter als Dad: »Marcus, setz dich hin. Du machst dich lächerlich.«
    Inzwischen sind alle im Ballsaal aufmerksam geworden und haben sich dem Familiendrama zugewandt, das sich vor ihren Augen abspielt. Als Marcus das merkt, ergreift er ein herrenloses halb leeres Glas Champagner und erhebt es: »Auf meinen Bruder Lev. Und auf unsere Eltern! Die immer das Richtige getan haben. Das Angemessene . Die immer großzügig gespendet haben. Die immer den zehnten Teil von allem unserer Kirche gegeben haben. He, Mom, gut, dass du zehn Kinder hast und nicht fünf. Sonst hätten wir Lev womöglich halbieren müssen.«
    Die Anwesenden stöhnen auf und schütteln den Kopf; wie kann sich ein ältester Sohn nur so danebenbenehmen?
    Plötzlich kommt Dad und packt Marcus fest an der Schulter. »Schluss jetzt! Setz dich hin.«
    Marcus schüttelt den Arm ab. »Oh, jetzt hab ich aber Angst!« Als sich Marcus wieder an Lev wendet, hat er Tränen in den Augen. »Ich hab dich lieb, Bruder … und heute ist ein besonderer Tag für dich, das weiß ich. Aber ich kann dabei nicht mitmachen.« Er wirft das Champagnerglas gegen die Wand. Es zerspringt, Kristallsplitter regnen auf das Büfett herab. Dann dreht er sich um und stürmt mit erstaunlich sicheren Schritten hinaus. Lev wird klar, dass er gar nicht betrunken ist.
    Levs Vater gibt der Band ein Zeichen, und sie beginnt eine Tanznummer, noch bevor Marcus den großen Raum verlassen hat. Menschen füllen die Tanzfläche und bemühen sich, die unbehagliche Stimmung zu vertreiben.
    »Tut mir leid, Lev«, sagt sein Vater. »Möchtest du … möchtest du vielleicht tanzen?«
    Aber Lev möchte nicht mehr tanzen. Der Wunsch, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, ist zusammen mit seinem Bruder verschwunden. »Ich würde gern mit Pastor Dan sprechen, wenn das in Ordnung ist.«
    »Natürlich.«
    Pastor Dan war schon vor Levs Geburt ein Freund der Familie. Mit ihm kann er leichter als mit seinen Eltern über Themen sprechen, die Geduld und Klugheit erfordern.
    Im Festsaal ist es zu laut und zu voll, deshalb gehen sie nach draußen auf die Terrasse, von der aus man über den Golfplatz des Country Clubs blicken kann.
    »Bekommst du es mit der Angst zu tun?« Pastor Dan weiß immer, was in Levs Kopf vor sich geht.
    Lev nickt. »Ich dachte, ich wäre vorbereitet.«
    »Das ist ganz normal. Mach dir keine Gedanken.«
    Aber Lev ist trotzdem enttäuscht von sich selbst. Sein ganzes Leben lang konnte er sich vorbereiten. Das sollte doch reichen. Seit Kindertagen weiß er, dass er ein Zehntopfer ist. »Du bist

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