Vollendet (German Edition)
etwas ganz Besonderes«, haben seine Eltern ihm immer gesagt. »Dein Leben dient Gott und der Menschheit.« Wie alt er war, als er herausfand, was genau das für ihn bedeutete, weiß er nicht mehr.
»Haben deine Mitschüler dich geärgert?«
»Nicht mehr als sonst«, sagt Lev. Und das stimmt. Manche hatten es ihm übel genommen, dass Erwachsene ihn als etwas Besonderes behandelten. Es gab nette Kids und es gab grausame. So war das im Leben. Aber es verletzte ihn, wenn sie ihn als »dreckigen Wandler« beschimpften. Als hätten auch seine Eltern eine Verfügung unterzeichnet, um ihn loszuwerden. Das trifft auf Lev nun wirklich nicht zu. Er ist der tolz und die Freude seiner Familie: nur Einsen in der Schule, bester Spieler seiner Baseballmannschaft. Dass er umgewandelt wird, macht ihn noch lange nicht zu einem Wandler.
An seiner Schule gibt es natürlich noch ein paar andere Zehntopfer, aber sie gehören anderen Glaubensgemeinschaften an, deshalb hat sich Lev ihnen nie verbunden gefühlt. Die Party heute Abend zeigt, wie viele Freunde Lev hat, aber sie sind nicht wie er. Sie werden ihr Leben fortsetzen, ohne umgewandelt zu werden. Ihr Körper und ihre Zukunft gehören allein ihnen. Lev hat sich Gott immer näher gefühlt als seinen Freunden, sogar näher als seiner Familie. Er fragt sich oft, ob ein Erwählter immer so allein ist. Oder stimmt mit ihm etwas nicht?
»Ich habe in letzter Zeit viele falsche Gedanken«, erzählt er Pastor Dan.
»Es gibt keine falschen Gedanken, sondern nur Gedanken, an denen man arbeiten und die man überwinden muss.«
»Na ja … ich bin einfach eifersüchtig auf meine Brüder und Schwestern. Ich muss dauernd daran denken, wie sehr ich meiner Mannschaft fehlen werde. Ein Zehntopfer zu sein ist eine Ehre und ein Segen, aber ich denke trotzdem ständig darüber nach, warum ausgerechnet ich eins sein muss.«
Pastor Dan, der anderen Menschen normalerweise so gut in die Augen schauen kann, wendet den Blick ab. »Das war lange vor deiner Geburt beschlossen. Es hängt nicht damit zusammen, was du getan oder nicht getan hast.«
»Die Sache ist nur, ich kenne viele große Familien …«
Pastor Dan nickt. »Ja, das ist heutzutage durchaus üblich.«
»Und viele geben gar kein Zehntopfer, auch Familien in unserer Gemeinde nicht, und niemand macht ihnen deshalb einen Vorwurf.«
»Es gibt auch Familien, die ihr erstes, zweites oder drittes Kind als Zehnten geben. Jede Familie muss die Entscheidung für sich selbst treffen. Deine Eltern haben lange gewartet mit der Entscheidung, dich zu bekommen.«
Lev nickt widerstrebend, denn er weiß, dass das stimmt. Er ist ein echtes Zehntopfer. Mit fünf leiblichen Geschwistern, einem adoptierten und drei, die »vom Storch« gebracht worden sind, ist Lev genau der Zehnte. Seine Eltern haben ihm immer eingeredet, das mache ihn zu etwas ganz Besonderem.
»Ich will dir was sagen, Lev«, sagt Pastor Dan und sieht ihm dabei endlich in die Augen. Wie bei Marcus schimmern Tränen darin, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich habe all deine Brüder und Schwestern aufwachsen sehen, und obwohl ich normalerweise keine Lieblinge habe, bist du für mich der Herausragendste, und zwar in so vielerlei Hinsicht, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen sollte. Und genau darum bittet Gott, weißt du. Nicht um die ersten Früchte, sondern um die besten.«
»Danke, Sir.« Pastor Dan weiß immer, was er sagen muss, damit es Lev besser geht. »Ich bin bereit.« Und als er es ausspricht, erkennt er, dass er trotz seiner Ängste und Befürchtungen wirklich bereit ist. Nur dafür hat er gelebt. Und trotzdem geht sein Zehntopferfest viel zu schnell zu Ende.
Am Morgen müssen die Calders im Esszimmer frühstücken. Der Tisch ist ganz ausgezogen, denn nur so haben Levs Brüder und Schwestern alle Platz. Eigentlich wohnen nicht mehr alle zu Hause, aber heute sind sie zum Frühstück hergekommen – alle außer Marcus.
Dennoch ist es für eine so große Familie ungewöhnlich still am Tisch, und das Klirren des Bestecks auf dem Porzellan macht noch deutlicher, dass niemand spricht.
Lev isst in seiner weißen Zehntopferkleidung aus Seide ganz vorsichtig, damit er sich nicht bekleckert. Nach dem Frühstück verabschieden sie sich mit vielen Umarmungen und Küssen. Das ist der schlimmste Teil. Lev wünschte, sie würden ihn einfach gehen lassen.
Pastor Dan trifft ein – das hat Lev so gewollt –, und sobald er da ist, geht es mit dem Abschiednehmen schneller.
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