Vollendet (German Edition)
Niemand will die wertvolle Zeit des Pastors verschwenden. Lev ist als Erster draußen im Cadillac seines Vaters, und obwohl er sich nicht umdrehen will, kann er sich nicht beherrschen: Langsam verschwindet sein Elternhaus hinter ihm.
Nie wieder werde ich dieses Zuhause sehen . Aber dann schiebt er diesen Gedanken weg, denn er ist unergiebig, nutzlos und egoistisch. Pastor Dan neben ihm auf dem Rücksitz schaut ihn lächelnd an.
»Es ist schon in Ordnung, Lev«, sagt er. Und allein, weil er es sagt, ist es das auch.
»Wie weit ist es bis zum Ernte-Camp?«, fragt Lev.
»Ungefähr eine Stunde«, antwortet seine Mutter.
»Und … machen sie es dann gleich?«
Seine Eltern sehen sich an. »Es gibt bestimmt Einführungsveranstaltungen«, meint sein Vater schließlich.
Sie wissen also auch nicht mehr als Lev.
Als sie auf die Autobahn auffahren, lässt er das Fenster herab, um den Fahrtwind auf dem Gesicht zu spüren. Er schließt die Augen.
Dafür wurde ich geboren. Dafür habe ich mein ganzes Leben gelebt. Ich bin erwählt. Ich bin gesegnet. Und ich bin glücklich.
Plötzlich steigt sein Vater in die Bremsen.
Der Gurt schneidet in Levs Schulter und er öffnet die Augen. Sie stehen mitten auf der Autobahn und um sie herum leuchten die Blaulichter von Polizeifahrzeugen auf. Und – hat er etwa gerade einen Schuss gehört?
»Was ist los?«
Auf einmal steht direkt vor seinem Fenster ein Junge, nur ein paar Jahre älter als Lev selbst. Er sieht verängstigt aus und gefährlich. Lev will rasch die Tür verriegeln, aber bevor ihm das gelingt, reißt der Junge sie auf. Lev erstarrt. Er weiß nicht, was er tun soll.
»Mom? Dad?«, ruft er.
Der Junge mit dem Killerblick will Lev an seinem weißen Seidenhemd aus dem Wagen ziehen, aber der Gurt hält ihn fest.
»Was machst du da? Lass mich in Ruhe!«
Levs Mom schreit seinen Vater an, er solle etwas tun, aber der fummelt nur an seinem eigenen Gurt herum.
Der Verrückte streckt die Hand aus und löst mit einer schnellen Bewegung Levs Gurt. Pastor Dan will den Eindringling packen, doch der reagiert mit einem raschen, festen Schlag – direkt in Pastor Dans Gesicht. Lev ist von so viel Gewalt einen entscheidenden Augenblick lang überrumpelt. Der Irre zerrt wieder an ihm, und diesmal fällt Lev aus dem Auto und schlägt mit dem Kopf auf den Asphalt. Als er aufschaut, sieht er, wie sein Vater endlich aus dem Auto steigt, aber der verrückte Junge versetzt ihm mit der Autotür einen heftigen Stoß, und er fällt der Länge nach hin.
»Dad!« Sein Vater landet vor einem herannahenden Auto, das aber ausweicht und ihn Gott sei Dank verfehlt. Dafür kommt es einem anderen Auto in die Quere und kracht hinein. Beide Autos schleudern unkontrolliert über die Fahrbahn, und es scheppert und kracht, als weitere Autos zusammenstoßen. Lev wird von dem Jungen auf die Füße gezogen. Er packt ihn am Arm und zerrt ihn mit sich. Lev ist klein für sein Alter. Der Junge ist ein paar Jahre älter und viel größer, sodass Lev sich nicht losreißen kann.
»Halt!«, schreit Lev. »Nimm, was du willst. Mein Portemonnaie«, sagt er, obwohl er gar keins hat, »oder das Auto. Aber bitte tu uns nichts.«
Der Junge zieht das Auto in Betracht, aber nur einen Augenblick lang. Geschosse zischen an ihnen vorbei. Auf der nach Süden führenden Fahrbahn haben Polizisten endlich den Verkehr gestoppt und den Mittelstreifen erreicht. Der am nächsten stehende Beamte schießt noch einmal. Ein Betäubungsgeschoss trifft den Cadillac und zerplatzt spritzend.
Der verrückte Junge nimmt Lev jetzt in eine Art Schwitzkasten und hält ihn zwischen sich und die Polizisten. Lev kapiert. Er möchte kein Auto oder Geld, sondern eine Geisel.
»Hör auf zu hampeln, ich hab eine Waffe!« Er drückt Lev etwas in die Seite, offensichtlich seinen Finger. Doch weil er völlig unberechenbar ist, hält Lev es für keine gute Idee, ihn zu reizen.
»Ich tauge nicht als Schutzschild.« Lev versucht es mit vernünftigen Argumenten. »Das sind Betäubungsgeschosse, den Polizisten ist es egal, ob sie mich treffen, ich werde ja nur bewusstlos.«
»Besser du als ich.«
Noch mehr Geschosse fliegen an ihnen vorbei, als sie sich durch den Verkehr schlängeln. »Bitte, du hast ja keine Ahnung, du kannst mich nicht mitnehmen. Ich bin ein Zehntopfer. Ich verpasse meine Ernte! Du machst mir alles kaputt!«
Und endlich scheint eine Spur von Menschlichkeit in den Augen des Wahnsinnigen auf. »Du bist ein Wandler?«
Lev hat
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