Vollendet (German Edition)
den Pastoren, die etwas von seinem Platz im großen Ganzen und von den Freuden des Zehntopfergangs faseln. Erst auf dem Flur fällt Lev der Tumult auf. Wandler rennen von den Spielfeldern auf die Grünfläche zwischen den Schlafsälen und dem Schlachthaus. Haben Blaine und Mai etwa schon angefangen? Lev hat keine Explosion gehört. Nein, es muss etwas anderes sein.
»Der Flüchtling aus Akron!«, ruft ein Junge. »Sie bringen ihn zur Umwandlung!«
In diesem Augenblick sieht Lev Connor. Er ist schon halb über den roten Teppich, eingerahmt von zwei Wachleuten. Auf der Grünfläche haben sich Kids versammelt, die jedoch Abstand halten, während immer noch mehr eintreffen. Sie kommen aus den Schlafsälen, dem Speisesaal, von überall her.
Die Band hat mitten im Lied aufgehört zu spielen. Die Keyboarderin stößt beim Anblick Connors auf dem roten Steinpfad einen Schrei aus. Connor blickt zu ihr hinauf, bleibt kurz stehen und wirft ihr einen Kuss zu, ehe er weitergeht. Lev hört sie weinen.
Nun laufen Wachleute, Angestellte und Betreuer panisch auf dem Hof zusammen, um die spontane Versammlung aufzulösen, die Kids zurückzutreiben. Doch die wollen nicht gehen. Sie stehen einfach nur da – auch wenn sie es nicht verhindern können, so können sie es doch bezeugen. Sie wollen da sein, während Connor aus seinem Leben schreitet.
»Beifall für den Flüchtling aus Akron!«, ruft ein Junge. »Beifall für Connor!« Und er beginnt zu klatschen. Bald applaudiert die ganze Menge und jubelt Connor zu, während er über den roten Teppich schreitet.
Applaus.
Klatschen.
Mai und Blaine!
Blitzartig wird Lev klar, was geschehen wird. Er kann Connor da nicht hineingehen lassen! Nicht jetzt! Er muss ihn unbedingt aufhalten.
Lev läuft von den Pastoren weg. Connor ist fast schon an den Stufen zum Schlachthaus. Lev rast in die Menge, kann sich aber nicht durchdrängeln, sonst würde er in die Luft fliegen. Er muss schnell sein, aber er muss auch vorsichtig sein – und das hält ihn auf.
»Connor!« Der Jubel um ihn herum ist zu laut. Und nun hat auch die Band wieder zu spielen begonnen. Sie spielt die Nationalhymne, wie auf einem Staatsbegräbnis. Die Wachleute und die Angestellten können sie nicht daran hindern. Sie versuchen es, aber es gelingt ihnen nicht. Sie haben alle Hände voll zu tun, die Menge in den Griff zu bekommen, und endlich kann Lev durchschlüpfen und gelangt auf den roten Teppich.
Nun ist der Weg zu Connor, der schon auf den Stufen ist, frei. Lev schreit wieder seinen Namen, doch Connor hört ihn nicht. Lev spurtet über den Steinpfad, ist aber noch zwanzig Meter von den Glastüren entfernt, durch die Connor mit den Wachleuten soeben das Gebäude betritt.
»Nein! Connor! Nein!«
Die Türen schließen sich hinter ihm. Connor ist im Schlachthaus, aber er wird nicht umgewandelt werden, sondern er wird sterben wie jeder andere in dem Gebäude … und wie um sein Versagen vollkommen zu machen, begegnet Levs Blick, der in diesem Moment zum Dach wandert, dem der Keyboardspielerin, die zu ihm hinunterschaut.
Risa.
Wie konnte er nur so dumm sein? An ihrem Schrei und dem Kuss, den Connor ihr zugeworfen hat, hätte er sie erkennen müssen. Lev steht da, ungläubig, wie versteinert … und dann bricht plötzlich die Welt zusammen.
Am Ende des Flurs wartet Blaine immer noch, dass jemand den Anfang macht.
»He! Wer bist du? Was machst du hier?«, brüllt ein Wachmann.
»Zurück!«, sagt Blaine. »Zurück, oder …«
Der Wachmann zieht seine Betäubungspistole heraus und spricht in sein Funkgerät. »Ich habe einen Wandler hier oben. Ich brauche Unterstützung!«
»Ich warne Sie«, sagt Blaine. Doch der Wachmann weiß genau, wie er mit einem Wandler, der sich frei im Schlachthaus bewegt, umgehen muss. Er zielt auf Blaines linken Oberschenkel und drückt ab.
»Nein!«
Aber es ist zu spät. Der Einschlag der Betäubungskugel ist wirkungsvoller als jeder Zünder. Als sich die sechs Liter Flüssigsprengstoff, die durch Blaines Körper strömen, entzünden, verbrennen Blaine und der Wachmann auf der Stelle.
Die Explosion erschüttert den Lagerraum wie ein Erdbeben. Mai denkt nicht weiter nach. Sie will es nicht. Nicht mehr. Sie betrachtet die Zünder an ihrer Hand. Sie tut es für Vincent. Für ihre Eltern, die die Umwandlungsverfügung unterschrieben haben. Für die ganze Welt.
Sie klatscht in die Hände.
Nichts.
Sie klatscht ein zweites Mal.
Nichts.
Sie klatscht ein drittes Mal.
Diesmal funktioniert
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