Vollendet (German Edition)
Klatschers vor sich geht, kurz bevor er seine Gräueltat begeht? Egal, welchen Gedanken er oder sie nachhängt – es sind Lügen. Doch wie alle gefährlichen Illusionen kommen die Lügen eines Klatschers in verlockendem Gewand daher.
Für Klatscher, denen man weisgemacht hat, dass Gott ihre Taten gutheißt, trägt die Lüge heilige Roben und verspricht ihnen vollmundig eine Belohnung, die nie kommen wird.
Für Klatscher, die mit ihrer Tat die Welt verändern wollen, nimmt die Lüge das Bild einer Menschenmenge an, die aus der Zukunft bewundernd auf sie zurückblickt.
Für Klatscher, die ihrer Umwelt ihr persönliches Elend vor Augen halten wollen, besteht die Lüge in der irrigen Annahme, der Schmerz anderer werde sie von ihrem eigenen Schmerz befreien.
Und für die Klatscher, die von Rachedurst getrieben werden, präsentiert sich die Lüge als Waage der Gerechtigkeit, die endlich im Gleichgewicht ist.
Erst wenn ein Klatscher die Hände zusammenführt, tritt diese Lüge offen zu Tage. Mit seinem letzten Atemzug verlässt sie den Klatscher, der nun völlig einsam aus dieser Welt geht. Nicht einmal seine Lüge begleitet ihn in die Vergessenheit.
Der Weg, der Mai zu diesem Punkt ihres Lebens geführt hat, war gepflastert mit Wut und Enttäuschung. Die Grenze ihrer Belastbarkeit war mit Vincent erreicht, einem Jungen, den keiner kannte. Einer, in den sie sich vor mehr als einem Monat in der Lagerhalle verliebte. Einer, der hoch am Himmel starb, eingesperrt in einen Container mit vier weiteren Jungs, die an ihrem eigenen Kohlendioxid erstickten. Niemand schien sein Verschwinden zu bemerken, niemanden kümmerte es. Niemanden außer Mai, die einen Seelenverwandten gefunden und an dem Tag, an dem sie auf dem Friedhof eintraf, verloren hatte.
Schuld war die Welt, aber als Mai heimlich zusah, wie die fünf Champs des Admirals Vincent und die anderen begruben, konnte sie ihrer Wut Gesichter geben. Die Champs verbuddelten Vincent ohne jeden Respekt. Sie rissen Witze und lachten. Sie schaufelten achtlos Dreck auf die fünf toten Jungs, wie Katzen, die ihren Haufen zuscharren.
Als Mai Cleaver kennenlernte, erzählte sie ihm, was sie gesehen hatte. Sie fanden, dass Rache gerechtfertigt sei. Es war Cleavers Idee, die Champs umzubringen. Es war Blaine, der sie betäubte und in den FedEx-Flieger brachte – aber es war Mai, die den Container verschloss. Sie war fasziniert, dass man töten kann, indem man eine Tür verriegelt.
Danach gab es für Mai kein Zurück mehr. Das Bett ist gemacht. Der Tag ist gekommen, an dem sie sich hineinlegen und zur Ruhe kommen wird.
Im Schlachthaus findet sie einen Lagerraum mit chirurgischen Handschuhen, Spritzen und allerlei glitzernden Instrumenten, die sie noch nie gesehen hat. Blaine ist irgendwo im Nordflügel des Gebäudes. Lev dürfte auf seiner Position an der Laderampe auf der Rückseite des Schlachthauses sein – so zumindest lautet der Plan. Es ist jetzt genau ein Uhr. Die vereinbarte Zeit.
Mai betritt den Lagerraum und schließt die Tür hinter sich. Sie wartet. Sie wird es tun, aber jetzt noch nicht. Soll doch einer der anderen loslegen. Sie will nicht die Erste sein.
Blaine wartet im verlassenen Flur des Obergeschosses. Dieser Bereich des Schlachthauses scheint nicht benutzt zu werden. Blaine hat beschlossen, seine Zünder nicht zu verwenden. Zünder sind etwas für Weicheier. Ein Hardcore-Klatscher schafft das mit einer kräftigen Handbewegung, ohne Zünder – und Blaine betrachtet sich als Hardcore-Klatscher, genau wie sein Bruder einer war. Er steht am Ende des Flurs, die Beine schulterbreit auseinander, und hüpft auf den Fußballen wie ein Tennisspieler vor dem Aufschlag. Die Arme sind ausgebreitet. Aber er wartet. Er ist hardcore, ja – aber den Anfang macht er nicht.
Lev hat den Psychologen davon überzeugt, dass er genügend Entspannung gefunden hat. In seinem Leben hat er noch nie besser geschauspielert, denn sein Herz rast, und durch sein Blut strömt Adrenalin, das ihn innerlich zu verbrennen droht.
»Geh zurück ins Zehntopferhaus«, sagt der Betreuer. »Lerne die anderen in aller Ruhe kennen. Bemühe dich, Lev. Du wirst es nicht bereuen.«
»Ja. Ja, in Ordnung. Danke. Es geht mir schon viel besser.«
»Gut.«
Der Betreuer gibt den beiden Pastoren ein Zeichen, und alle stehen auf. Es ist 13.04 Uhr. Lev würde am liebsten durch die Tür davonstürzen, doch damit würde er sich eine weitere Therapiesitzung einhandeln. Er verlässt das Büro gemeinsam mit
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