Vollendet (German Edition)
ernst genommen, man weiß nie, wann die Drohung echt ist.
»Bitte nicht drängeln«, sagt sie zu einem Schüler, der sie am Ellbogen anstößt. »Wir kommen alle raus.« Zum Glück hat sie ihren Kaffee nicht mitgenommen.
»’tschuldigung, Miss Steinberg.«
Als sie an einem der Chemiesäle vorbeigeht, bemerkt sie, dass die Tür offen steht. Um ihrer Sorgfaltspflicht zu genügen, späht sie hinein und schaut nach, ob sich dort noch Nachzügler aufhalten, die sich der Massenflucht entziehen wollen. Die Tische sind leer, und die Stühle stehen alle an ihrem Platz. In diesem Labor ist in der letzten Stunde niemand gewesen. Aus Gewohnheit will sie die Tür zuziehen, aber da hört sie ein Geräusch, das in diesem Raum vollkommen fehl am Platz ist.
Das Schreien eines Babys.
Zuerst denkt sie, es käme aus der Kita, aber die ist ein ganzes Stück weiter den Flur entlang. Das Schreien kommt eindeutig aus dem Labor. Sie hört es wieder, nur diesmal klingt es merkwürdig gedämpft und zornig. Sie kennt das Geräusch. Jemand versucht, dem Baby den Mund zuzuhalten. Diese Teenager-Mütter tun das immer, wenn sie ihre Babys irgendwohin mitnehmen, wo sie nicht hingehören. Sie begreifen einfach nicht, dass das Baby dann nur noch lauter schreit.
»Schluss mit lustig«, ruft sie. »Komm raus, du und dein Baby müsst wie alle anderen die Schule verlassen.«
Aber es kommt niemand heraus. Wieder hört sie das gedämpfte Schreien, gefolgt von aufgebrachtem Flüstern, das sie nicht recht orten kann. Verärgert geht sie in das Labor und stürmt, immer nach rechts und links schauend, den Mittelgang hinunter, bis sie sie entdeckt. Zusammengekauert hocken sie hinter einem Labortisch. Es ist nicht nur ein Mädchen und ihr Baby, sondern auch noch ein Junge. Eine Aura der Verzweiflung umgibt sie. Der Junge sieht aus, als wollte er weglaufen, aber das Mädchen hält ihn mit ihrer freien Hand fest. Das Baby schreit.
Die Lehrerin kennt zwar nicht jeden Schüler beim Namen, aber ihre Gesichter kennt sie, und die Mütter unter den Schülerinnen kennt sie ganz sicher alle. Dieses Mädchen gehört nicht zu ihnen, und der Junge ist ihr auch völlig fremd.
Das Mädchen schaut sie flehend an. Sie ist zu verängstigt, um zu sprechen, und schüttelt nur den Kopf, aber der Junge sagt: »Wenn Sie uns anzeigen, sterben wir.«
Beim Gedanken daran drückt das Mädchen das Baby enger an sich. Es schreit nicht mehr so sehr, hat sich aber auch noch nicht ganz beruhigt. Das sind ganz offensichtlich die von der Polizei Gesuchten, auch wenn sie über die Gründe nur Vermutungen anstellen kann.
»Bitte …«, sagt der Junge.
Bitte was? Bitte verstoßen Sie gegen das Gesetz? Bitte bringen Sie sich selbst und die Schule in Gefahr? Aber nein, das ist es nicht, ganz und gar nicht. Eigentlich sagt er: Bitte seien Sie ein Mensch . Das Leben ist so voller Regeln und Zwänge, dass man das leicht vergisst. Sie weiß – sie sieht –, wie oft Mitgefühl hinter selbstsüchtiger Berechnung zurücksteht.
Da sagt eine Stimme hinter ihr: »Hannah?«
Sie dreht sich um. An der Tür steht ein anderer Lehrer. Er sieht vom Kampf mit den reißenden Schülerströmen, die immer noch aus der Schule drängen, ein bisschen zerzaust aus. Offensichtlich hörte auch er das schreiende Baby.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
»Ja«, sagt Hannah ruhiger, als es ihrem Seelenzustand entspricht. »Ich kümmere mich darum.«
Der andere Lehrer nickt und geht. Wahrscheinlich ist er froh, dass er nichts mit dem schreienden Baby zu tun haben muss. Hannah weiß jedoch inzwischen, was los ist, zumindest hat sie eine Vermutung. Nur eine bestimmte Sorte Jugendlicher hat diese Verzweiflung im Blick.
Sie streckt den beiden die Hand hin. »Kommt mit mir.« Als sie zögern, fügt sie hinzu: »Wenn sie euch suchen, dann finden sie euch, sobald das Gebäude leer ist. Ihr könnt euch hier nicht verstecken. Wenn ihr rauswollt, müsst ihr zusammen mit allen anderen hinaus. Kommt, ich helfe euch.«
Endlich stehen sie hinter dem Labortisch auf, und sie stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie trauen ihr immer noch nicht, aber warum sollten sie auch? Wandler leben dauernd mit der Bedrohung, verraten zu werden. Nun, sie müssen ihr nicht trauen, sie müssen ihr nur folgen.
»Erzählt mir nicht, wie ihr heißt«, sagt sie zu ihnen. »Erzählt mir gar nichts, dann lüge ich später nicht, wenn ich sage, dass ich nichts weiß.«
Immer noch drängen sich massenweise Schüler durch den Flur und
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