Vollendet (German Edition)
Sorgerecht zuzubilligen.
»Mit der Energie, die in der Bosheit meiner Eltern steckt, könnte man eine Kleinstadt mehrere Jahre lang heizen.«
Das Mädchen heißt Mai. Ihre Eltern wollten gern einen Sohn, aber bis sie schließlich einen bekamen, hatten sie vier Töchter. Mai war die vierte. »Das ist nichts Neues«, sagt Mai. »Damals, in China, als nur ein Kind pro Familie erlaubt war, ließen die Leute ihre Mädchen einfach sterben.«
Der große Junge ist Roland. Er träumte von einer Karriere in der Armee, hatte aber einen so hohen Testosteron- und Steroidwert, dass er selbst dem Militär nicht geheuer war. Wie Connor prügelte er sich dauernd in der Schule, obwohl Connor den Verdacht hat, dass Rolands Schlägereien viel heftiger waren als seine. Das allerdings wurde ihm nicht zum Verhängnis. Roland verprügelte seinen Stiefvater, weil der seine Mutter geschlagen hatte. Die Mutter ergriff Partei für ihren Mann, und der Stiefvater kam mit einer Verwarnung davon. Roland hingegen wurde zum Umwandeln geschickt.
»Das ist total unfair«, sagt Risa empört zu ihm.
»Ist das, was sie mit uns gemacht haben, etwa fair?«, fragt Connor.
Roland fixiert ihn. Sein Blick ist kalt wie Eis. »Red nur weiter in diesem Ton mit ihr, vielleicht sucht sie sich dann einen neuen Freund.«
Connor lächelt ihn mit spöttischer Herzlichkeit an und wirft einen Blick auf das Tattoo an seinem Handgelenk: »Ich mag deinen Delfin.«
Roland findet das nicht witzig. »Das ist ein Tigerhai, Blödmann.«
Connor beschließt, Roland niemals den Rücken zuzukehren.
Haie, so hat Connor mal gelesen, leiden an einer tödlichen Form von Platzangst. Dabei geht es weniger um die Angst vor geschlossenen Räumen, als um die Unfähigkeit, in ihnen zu überleben. Niemand weiß, warum. Manche behaupten, das Metall in den Aquarien störe ihren Gleichgewichtssinn. Aber was immer es ist: Große Haie leben in Gefangenschaft nicht lang.
Nach einem Tag in Sonias Keller versteht Connor, wie ihnen zumute ist. Risa kann sich mit dem Baby beschäftigen. Es fordert viel Aufmerksamkeit, und obwohl sie über die Verantwortung klagt, weiß Connor, wie dankbar sie ist, dass es ihr hilft, die Zeit rumzukriegen. Hinten im Keller gibt es noch einen Raum, und Roland besteht darauf, dass Risa ihn für sich und das Baby bekommt. Er stellt es als Freundlichkeit hin, aber offensichtlich erträgt er das Geschrei des Babys nicht.
Mai liest. In der Ecke sind ganze Stapel staubiger alter Bücher, und Mai hält immer eines in der Hand. Nachdem Roland den hinteren Raum an Risa abgetreten hat, zieht er einen Regalboden heraus und richtet sich dahinter seine private Nische ein. Er nimmt den Raum in Besitz, als hätte er Erfahrung damit, sich in einer Zelle aufzuhalten. Wenn er nicht in seiner Nische hockt, dann verteilt er das Essen im Keller neu. »Ich kümmere mich ums Essen«, verkündet er. »Da wir jetzt zu fünft sind, teile ich die Rationen neu ein und entscheide, wer wann was bekommt.«
»Ich kann für mich selbst entscheiden, wann ich was möchte«, sagt Connor.
»So funktioniert das nicht«, sagt Roland. »Ich hab die Sache hier im Griff. Und so bleibt es auch.« Dann gibt er Connor Dosenfleisch. Connor betrachtet die Konserve widerwillig.
»Wenn du was Besseres willst«, sagt Roland, »dann halt dich an die Regeln.«
Connor überlegt, wie klug es ist, sich wegen dieser Sache auf einen Kampf einzulassen. Allerdings spielt Klugheit selten eine Rolle, wenn Connor gereizt ist. Hayden entschärft die Situation, bevor sie eskaliert. Er nimmt Connor die Dose aus der Hand und reißt sie auf.
»Wer nicht will, der hat schon«, sagt er und isst das Dosenfleisch lässig mit den Fingern. »Bevor ich herkam, habe ich das Zeug nie gegessen – jetzt liebe ich es.« Dann grinst er. »Oh mein Gott, ich verwandle mich in die Unterschicht!«
Roland schaut Connor böse an, und Connor erwidert seinen Blick. Dann sagt er, was er in solchen Situationen immer sagt.
»Hübsche Socken.«
Auch wenn Roland nicht sofort nach unten schaut, bringt es ihn doch aus dem Konzept, und er weicht zurück. Erst als er sich unbeobachtet glaubt, prüft er, ob er zwei gleiche Socken anhat. In diesem Augenblick kichert Connor. Kleine Siege sind besser als nichts.
Hayden ist ihm ein Rätsel. Connor ist sich nicht sicher, ob er hier wirklich alles so lustig findet oder ob es nur seine Art ist, mit dieser schrecklichen Situation umzugehen. Eigentlich mag Connor reiche, affige Kids wie ihn nicht, aber
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