Vollendet (German Edition)
Flugzeug darüberfliegt.
Am Ende der zweiten Woche weiß Risa genau, wo sich Ärger zusammenbraut. Im Mittelpunkt steht immer derselbe Typ, den sie am liebsten nie wiedergesehen hätte. Doch kurz nach ihrer und Connors Ankunft ist auch er aufgetaucht.
Roland.
Von allen Kids hier ist er der Gefährlichste. Leider ist auch Connor in der vergangenen Woche nicht gerade ein Vorbild charakterlicher Stärke gewesen.
In den Geheimverstecken war alles in Ordnung gewesen. Connor hatte sich beherrscht und das Impulsive oder Irrationale unterdrückt. Hier dagegen, inmitten so vieler Jugendlicher, ist er aufbrausend und hat eine große Klappe. Die kleinste Kleinigkeit bringt ihn in Rage. Ein halbes Dutzend Mal war er schon in Schlägereien verwickelt. Das muss der Grund gewesen sein, warum sich seine Eltern zur Umwandlung entschlossen hatten – ein so unbeherrschtes Temperament kann Eltern zu verzweifelten Maßnahmen treiben.
Ihr gesunder Menschenverstand sagt Risa, dass sie sich von ihm fernhalten müsste. Bisher waren sie nichts anderes als eine Zweckgemeinschaft, doch mittlerweile ist auch die überflüssig geworden. Trotzdem fühlt sie sich mit jedem Tag mehr zu Connor hingezogen und macht sich größere Sorgen um ihn.
Eines Tages, direkt nach dem Frühstück, geht sie zu ihm, um ihn vor der drohenden Gefahr zu warnen. Er sitzt auf dem Boden und ritzt mit einem rostigen Nagel ein Bild in den Betonboden. Risa wünschte, sie könnte es gut finden, aber Connor ist kein großer Künstler. Das enttäuscht sie, sie sucht verzweifelt nach etwas, das seine schlechten Eigenschaften aufwiegt. Wäre er ein Künstler, könnten sie sich auf der kreativen Ebene miteinander verständigen. Sie könnte ihm von ihrer Musikleidenschaft erzählen, und er würde es verstehen. Aber wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass sie Klavier spielt. Und es wäre ihm wohl auch herzlich egal.
»Was zeichnest du da?«, fragt sie.
»Bloß ein Mädchen, das ich mal kannte.«
Risa erstickt ihre aufkeimende Eifersucht schnell in einem Gefühlsvakuum. »Hast du sie gemocht?«
»Irgendwie.«
Risa betrachtet die Skizze genauer. »Die Augen sind zu groß für ihr Gesicht.«
»Liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich an ihre Augen am besten erinnern kann.«
»Und die Stirn ist zu niedrig. So, wie du sie zeichnest, ist kein Platz für ein Gehirn.«
»Ha, na ja, sie ist auch nicht besonders intelligent.«
Als Risa lacht, hellt sich auch Connors Miene auf. Wenn er lächelt, kann man sich kaum vorstellen, dass das derselbe Typ ist, der sich mit anderen prügelt. Sie überlegt, ob er wohl in der Stimmung ist, sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hat.
Er wendet den Blick ab. »Willst du was, oder bist du heute als Kunstkritikerin unterwegs?«
»Ich … ich habe mich gefragt, warum du hier so alleine herumsitzt.«
»Aha, du bist wohl auch noch meine Seelenklempnerin.«
»Angeblich sind wir zusammen. Wenn wir den Schein wahren wollen, darfst du dich nicht so absondern.«
Connor sieht sich in der Lagerhalle um, wo die Kids mit allem Möglichen beschäftigt sind. Risa folgt seinem Blick. Eine Gruppe von Welthassern spuckt den lieben langen Tag Gift. Ein Junge mit dauerverstopfter Nase liest immer wieder denselben Comic. Mai hat sich mit einem mürrischen Kerl mit raspelkurzem Haar zusammengetan, der Vincent heißt, Leder trägt und mit Piercings übersät ist. Sie müssen seelenverwandt sein, denn sie knutschen von morgens bis abends und ziehen damit andere an, die ihnen fasziniert zusehen. »Ich will mit denen nichts zu tun haben«, sagt Connor. »Ich mag die Kids hier nicht.«
»Warum?«, fragt Risa. »Sind sie dir zu ähnlich?«
»Sie sind Loser.«
»Genau das meine ich.«
Er wirft ihr einen halbherzig bösen Blick zu und schaut dann wieder auf seine Zeichnung, aber Risa weiß genau, dass seine Gedanken ganz woanders sind – nicht bei dem Mädchen. »Wenn ich allein bin, zoffe ich mich nicht dauernd.« Er gibt die Zeichnung wohl auf, legt den Nagel hin. »Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht sind es all die Stimmen. Vielleicht sind es die vielen Körper, die sich um mich bewegen. Ich hab das Gefühl, Ameisen krabbeln in meinem Hirn herum, und ich würde am liebsten schreien. Eine Weile halte ich es aus, dann explodiere ich. Das ist mir sogar zu Hause passiert, wenn beim Abendessen alle durcheinandergeredet haben. Einmal hatten wir Besuch, und das Gerede hat mich so verrückt gemacht, dass ich einen Teller in die Vitrine geschmettert
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