Vollendet (German Edition)
und recycelt. Es fällt Connor schwer, das zu akzeptieren. Er hat sein Leben riskiert, um Lev zu retten, genau wie für das Baby auf der Türschwelle. Das Baby ist gerettet worden, aber nicht Lev. Natürlich trägt Connor keine Schuld an Levs Umwandlung, aber trotzdem hat er ein schlechtes Gewissen. Deshalb steht er jedes Mal, wenn eine Gruppe Neuer eintrifft, erwartungsvoll da, in der Hoffnung, dass der selbstgefällige, wichtigtuerische, nervige Lev noch am Leben ist – obwohl es eigentlich keine Hoffnung mehr gibt.
24. Risa
Die Tarnkappen bringen das Weihnachtsessen eine Stunde zu spät. Es ist derselbe Fraß wie immer, nur dass er diesmal mit roten Zipfelmützen serviert wird. An diesem Abend herrscht Ungeduld in der Halle. Alle haben Hunger und drängeln sich vor der Essensausgabe wie die Notleidenden in einem Flüchtlingslager, und es macht die Lage nicht einfacher, dass statt der üblichen vier nur zwei Tarnkappen Essen ausgeben.
»Bitte anstellen! Bitte anstellen!«, brüllen sie. »Es ist genug für alle da. Ho, ho, ho.« Doch heute geht es nicht darum, genug zu bekommen, sondern es sofort zu bekommen.
Risa ist genauso hungrig wie alle anderen. Aber zu den Essenszeiten hat man auf der Toilette ein wenig Ruhe, ohne dass ständig jemand die unverschlossene Tür aufreißt oder ungeduldig dagegenhämmert. Heute Abend, während sich die anderen um ihren Weihnachtspamp zanken, ist überhaupt niemand dort. Deshalb schiebt Risa ihren Hunger noch ein wenig auf, sondert sich von den anderen ab und geht zur Toilette.
Sie hängt das selbst gebastelte Besetzt-Zeichen an den Türgriff und schließt die Tür hinter sich. Einen Augenblick betrachtet sie sich im Spiegel, doch da ihr das zerlumpte Mädchen mit den strähnigen Haaren nicht gefällt, gibt sie es bald auf. Sie wäscht sich das Gesicht und trocknet es, da keine Handtücher da sind, mit den Ärmeln ab. Dann hört sie, wie sich hinter ihr die Tür quietschend öffnet.
Als sie sich umdreht, unterdrückt sie ein erschrecktes Keuchen. Es ist Roland. Gerade schließt er die Tür leise hinter sich. Risa hat einen großen Fehler begangen. Sie hätte nie allein herkommen dürfen.
»Raus hier«, sagt sie. Sie wünschte, sie klänge energischer, aber sie fühlt sich völlig überrumpelt.
»Sei doch nicht so unfreundlich.« Roland geht langsam einen Schritt auf sie zu. »Wir sind doch alle Freunde hier, oder nicht? Und da die anderen essen, haben wir ein bisschen Zeit ganz für uns allein und können uns besser kennenlernen.«
»Keinen Schritt weiter!« Risa überlegt fieberhaft, was sie tun kann, doch in dem engen Raum mit nur einer Tür gibt es rein gar nichts, was sie als Waffe benutzen könnte. Sie sitzt in der Falle.
Er ist ihr nun gefährlich nahe. »Manchmal nehme ich den Nachtisch gern vor der Hauptspeise. Wie ist es mit dir?«
Kaum ist er in Reichweite, versucht sie, ihn zu schlagen, mit dem Knie zu rammen, ihm irgendwie Schmerzen zuzufügen, Hauptsache, er ist kurz abgelenkt, und sie kann durch die Tür entfliehen. Aber er ist einfach zu schnell. Er packt ihre Hände, drückt sie gegen die kalte grüne Fliesenwand und presst die Hüfte gegen sie, sodass sie mit dem Knie nichts ausrichten kann. Dabei grinst er, als ob das alles ganz einfach wäre. Seine Hand liegt jetzt auf ihrer Wange. Der Hai, den er sich auf den Unterarm tätowiert hat, ist nur Zentimeter von ihr entfernt. Er sieht aus, als wollte er sie gleich fressen.
»Also, wie wär’s? Wir amüsieren uns ein bisschen, und du wirst in den nächsten neun Monaten nicht umgewandelt.«
Risa war noch nie der Typ, der schreit. Für sie ist Schreien ein Ausdruck der Schwäche. Ein Zeichen für die eigene Niederlage. Jetzt muss sie sich ihre Niederlage eingestehen, denn sie hat zwar eine Menge Erfahrung darin, sich Widerlinge vom Leib zu halten, aber Roland hat noch mehr Erfahrung darin, ein Widerling zu sein.
Also schreit sie, und zwar aus vollem Hals, markerschütternd. Doch sie hat sich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, denn in diesem Moment brüllt ein Düsenjet über ihre Köpfe hinweg, erschüttert die Wände und übertönt ihren Schrei.
»Du musst lernen, das Leben zu genießen«, sagt Roland. »Sagen wir, das ist die erste Lektion.«
Da öffnet sich die Tür, und Risa sieht über Rolands Schulter Connor in der Tür stehen. Seine Augen glühen. Nie war Risa glücklicher, ihn zu sehen.
»Connor! Halt ihn auf!«
Roland, der Connor im Spiegel sieht, lässt Risa nicht los.
»Tja«, sagte
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