Vollendet (German Edition)
habe. Die Glassplitter sind in alle Richtungen geflogen. Das Essen war ruiniert. Meine Eltern haben mich gefragt, was in mich gefahren ist, aber ich konnte es ihnen nicht beantworten.«
Es tut Risa gut, dass Connor ihr das erzählt. Sie fühlt sich ihm näher. Nun, da er sich geöffnet hat, wird er sich vielleicht auch anhören, was sie ihm zu sagen hat.
»Ich will mit dir über etwas reden.«
»Ja?«
Risa setzt sich neben ihn. Sie spricht leise.
»Ich möchte, dass du die anderen beobachtest. Wo sie hingehen. Mit wem sie reden.«
»Alle?«
»Ja, aber immer einen nach dem anderen. Nach einer Weile wird dir etwas auffallen.«
»Was denn?«
»Zum Beispiel, dass diejenigen, die zuerst essen, auch die sind, die am meisten mit Roland zusammen sind. Dabei stellt er selber sich nie vorne an. Und dass seine besten Freunde sich in die anderen Grüppchen mischen und Streit säen, bis sie zerbrechen. Dass Roland besonders nett zu den Kids ist, mit denen die anderen nur Mitleid haben – aber nur so lange, bis keiner mehr Mitleid mit ihnen hat. Dann benutzt er sie.«
»Schreibst du ein Referat über ihn?«
»Ich meine es ernst. Ich habe so etwas schon erlebt. Er ist machthungrig, er ist skrupellos, und er ist vor allem sehr clever.«
Connor muss lachen. »Roland? Der könnte sich doch nicht mal aus einer Papiertüte befreien.«
»Nein, aber er weiß ganz genau, wie er alle anderen in eine hineinbekommt. Und dann zerquetscht er sie.« Das bringt Connor offenbar zum Nachdenken. Gut . Er muss nachdenken. Er muss sich eine Strategie überlegen.
»Warum erzählst du mir das?«
»Weil du seine größte Bedrohung bist.«
»Ich?«
»Du bist ein Kämpfer, das weiß jeder. Und du lässt dir von niemandem etwas gefallen. Hast du schon mitbekommen, dass manche finden, man sollte etwas gegen Roland unternehmen?«
»Ja.«
»Das sagen sie nur, wenn du in der Nähe bist. Sie wollen, dass du etwas gegen ihn unternimmst – und Roland weiß das.«
Connor will den Gedanken abschütteln, aber Risa lässt nicht locker.
»Hör mir zu, ich weiß, wovon ich rede. Im Waisenhaus gab es immer gefährliche Kids, die sich an die Macht gemobbt haben. Die kommen damit durch, weil sie genau wissen, wen sie sich vornehmen können und wann sie es am besten tun. Und am schlimmsten hat es immer die erwischt, die ihnen selbst am gefährlichsten werden konnten.«
Connor ballt die rechte Hand zur Faust. Er scheint sie völlig falsch zu verstehen.
»Wenn er einen Kampf haben will, kann er ihn haben.«
»Nein! Du darfst den Köder nicht schlucken! Genau das will er doch! Er setzt alles daran, dich in einen Kampf zu verwickeln. Aber du darfst dich nicht darauf einlassen!«
Connor reckt den Unterkiefer vor. »Du glaubst, ich kann ihn nicht besiegen?«
Risa packt ihn am Handgelenk und hält es fest. »Einer wie Roland will nicht gegen dich kämpfen. Er will dich umbringen.«
23. Connor
Connor gibt es nicht gern zu, aber Risa hat schon ziemlich oft recht gehabt. Ihre Besonnenheit hat ihnen mehr als einmal den Hals gerettet. Als er darauf achtet, stellt er fest, dass sie mit ihrer Analyse von Rolands geheimen Machtstrukturen den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Roland formt seine Umgebung meisterhaft zu seinem eigenen Vorteil. Allerdings nicht über Mobbingattacken, sondern über subtile Beeinflussung seiner Umgebung. Das Mobbing dient schon fast als Tarnung dafür, was wirklich vor sich geht. Solange die anderen den dummen Grobian in ihm sehen, entgehen ihnen seine cleveren Manöver. So schmeichelt er sich bei einer der Tarnkappen ein, indem er vor deren Augen demonstrativ einem Jüngeren etwas zu essen abgibt. Wie ein meisterhafter Schachspieler macht Roland keinen Zug ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, auch wenn es für die anderen nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Risa hat nicht nur in Bezug auf Roland recht, sondern auch in Bezug auf Lev. Connor kann Lev nicht vergessen. Lange hat er sich eingeredet, dass er nur Rache will und es nicht abwarten kann, bis sie endlich quitt sind. Doch jedes Mal, wenn eine neue Gruppe eintrifft und Lev nicht dabei ist, macht sich Verzweiflung in seinem Magen breit. Verzweiflung führt zu Wut, und er hat den Verdacht, dass diese Wut die Schlägereien, in die er gerät, mit befeuert.
Lev hat schließlich nicht nur Connor und Risa ausgeliefert, sondern auch sich selbst, was bedeutet, dass Lev wahrscheinlich nicht mehr da ist. Umgewandelt in nichts – Knochen, Fleisch und Verstand, geschreddert
Weitere Kostenlose Bücher