Vollendet (German Edition)
Cleaver lächelt und deutet mit dem Finger auf Lev. »Die Frage ist, bist du auch so einer? Hast du das Zeug, um einer von uns zu sein?«
Lev betrachtet die drei. Sie gehören zu der Sorte Mensch, die seine Eltern hassen. Er könnte sich ihnen aus reinem Trotz anschließen, aber das ist nicht genug – diesmal nicht. Es muss mehr dahinter sein. Und da erst wird Lev klar, dass wirklich mehr dahinter ist . Es ist unsichtbar, doch es ist da, wie der tödliche Strom, der in einem unterirdischen Hochspannungskabel fließt. Wut, aber mehr als Wut: der Wille, die Wut auch umzusetzen.
»Ich bin dabei.«
Zu Hause hat Lev immer das Gefühl gehabt, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Bisher hat er gar nicht gemerkt, wie sehr ihm das in den letzten Wochen gefehlt hat.
»Willkommen in der Familie«, sagt Cleaver und schlägt ihm so heftig auf den Rücken, dass Lev Sterne vor den Augen tanzen.
36. Risa
Risa merkt als Erste, dass mit Connor etwas nicht stimmt. Risa sorgt sich als Erste, weil mit Lev etwas nicht stimmt.
In einem Anflug von Egoismus ärgert sie sich darüber, denn es läuft doch alles gerade so gut für sie – sie hat ihren Platz gefunden. Risa wünschte, sie könnte auch nach ihrem achtzehnten Geburtstag hierbleiben, denn draußen in der Welt könnte sie niemals tun, was sie hier tun kann. Ohne Zulassung dürfte sie niemanden behandeln. Es ist in Ordnung, solange es ums reine Überleben geht, doch in der zivilisierten Welt sieht es ganz anders aus. Wenn Risa achtzehn ist, kann sie vielleicht aufs College gehen und Medizin studieren, aber dafür braucht sie Geld und Beziehungen, und sie müsste sich mit mehr Konkurrenz herumschlagen als in der Musik. Sie fragt sich, ob sie sich vielleicht verpflichten und Militärärztin werden kann. Wer in einem Militärkrankenhaus arbeitet, muss nicht unbedingt der typische Soldat sein. Egal, welche Wahl sie trifft – Hauptsache, sie hat überhaupt eine Wahl. Zum ersten Mal seit langem sieht sie für sich eine Zukunft. Angesichts dieser neu gewonnenen Zuversicht kann sie jetzt keine Querschläger gebrauchen.
Darum kreisen Risas Gedanken, als sie in den Lernflieger geht. Der Admiral hat drei zentral gelegene und gut erhaltene Maschinen für die Weiterbildung ausgestattet, mit einer Bibliothek, Computern und allem, was man braucht, um etwas zu lernen. »Das ist keine Schule«, hat der Admiral ihnen kurz nach ihrer Ankunft erklärt. »Es gibt keine Lehrer und keine Prüfungen.« Merkwürdigerweise sind die Lernflieger wohl gerade deshalb immer gut gefüllt.
Risa, die bei Sonnenaufgang zum Dienst muss, hat es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag in einem der Lernflieger zu beginnen, da so früh außer ihr meist niemand da ist. Ihr ist das nur recht, denn den anderen ist es unangenehm, sie dort zu sehen. Die Kids stört nicht, was Risa liest – überwiegend anatomische und medizinische Fachbücher –, sondern dass sie es überhaupt lernen muss. Die anderen gehen davon aus, dass sie als Sanitäterin alles Notwendige weiß, und wollen nur ungern daran erinnert werden, dass dem nicht so ist.
Als sie heute in den Jet steigt, ist Connor schon da. Überrascht bleibt Risa in der Tür stehen. Er hat sie nicht kommen hören, so vertieft ist er in seine Lektüre. Sie betrachtet ihn einen Moment. Noch nie hat er so müde ausgesehen, nicht einmal während ihrer Flucht. Doch sie freut sich riesig, ihn zu treffen, denn sie haben beide so viel zu tun, dass sie kaum Zeit füreinander haben.
»Hi, Connor.«
Er schreckt zusammen, blickt auf und schlägt das Buch zu. Als er merkt, wer es ist, entspannt er sich. »Hallo, Risa.« Sie setzt sich neben ihn, er lächelt und wirkt schon nicht mehr so müde. Sie scheint eine positive Wirkung auf ihn zu haben.
»Du bist schon früh auf.«
»Nein, ich bin spät auf«, sagt er. »Ich konnte nicht schlafen, deshalb bin ich hergekommen.« Er sieht zu einem der kleinen Seitenfenster hinaus. »Ist es schon Morgen?«
»So ziemlich. Was liest du da?«
Er versucht, das Buch vor ihr zu verbergen, aber dafür ist es schon zu spät. Er hat zwei Bücher vor sich liegen. Das untere ist ein Buch über Ingenieurswesen. Das ist nicht weiter überraschend, da er sich für Geräte und ihre Funktionsweise interessiert. Das obere Buch allerdings, in dem er gelesen hat, als sie eintraf, verblüfft sie, ja, bringt sie fast zum Lachen.
»Kriminologie für Dummies?«
»Tja, also … ein Hobby braucht doch jeder.«
Sie sieht ihn forschend an, doch er weicht
Weitere Kostenlose Bücher