Vollendet (German Edition)
Friedhof hat er noch nicht alle Jugendlichen kennengelernt. Das Mädchen ist Asiatin und hat pinkfarbenes Haar. Der Junge hat eine Glatze und ist am ganzen Körper tätowiert.
»Und wer hat dir gesagt, dass du herkommen sollst?«, fragt der Glatzkopf.
»Ein Mädchen, das ich in Colorado getroffen habe. Sie heißt Julie-Ann.«
Da tritt eine dritte Gestalt aus dem Dunkel. Es ist kein Jugendlicher, sondern ein Erwachsener, vielleicht Mitte zwanzig. Der Typ hat schmieriges rotes Haar, einen Ziegenbart und ein knorriges Gesicht mit eingesunkenen Wangen. Es ist Cleaver, der Hubschrauberpilot. Er lächelt.
»Julie-Ann hat dich geschickt!«, sagt er. »Cool! Wie geht es ihr?«
Lev denkt einen Augenblick nach. »Sie hat ihre Aufgabe erledigt.«
Cleaver nickt. »Ja, so läuft das.«
Die anderen beiden stellen sich vor. Der Glatzkopf heißt Blaine, das Mädchen Mai.
»Was ist mit dem Kerl, der den Hubschrauber mit dir fliegt?«, fragt Lev den Piloten. »Macht der auch mit?«
»Roland ist nicht … so richtig geeignet für unsere kleine Gruppe«, sagt Cleaver. »Bist du hergekommen, um uns die guten Neuigkeiten über Julie-Ann zu überbringen, oder gibt es noch einen anderen Anlass?«
»Ich bin hier, weil ich hier sein will.«
»Das sagst du.« Cleaver klingt wenig beeindruckt. »Aber wir wissen immer noch nicht, ob du echt bist.«
»Erzähl uns von dir«, sagt Mai.
Lev will ihnen schon die Raubüberfall-Version auftischen, aber als er den Mund aufmacht, überlegt er es sich anders. Hier ist kein Platz für Lügen. Also erzählt er ihnen alles, von dem Moment, an dem Connor ihn entführt hat, bis zu seiner Zeit mit CyFi und den Wochen danach. Als er fertig ist, macht Cleaver einen ausgesprochen zufriedenen Eindruck.
»Soso, ein Zehntopfer bist du also! Das ist wunderbar. Du weißt ja gar nicht, wie wunderbar das ist!«
»Was heißt das?«, fragt Lev. »Bin ich drin oder nicht?«
Es wird still. Feierlich. So, als stünden sie am Beginn eines Rituals.
»Sag mir, Lev, wie sehr hasst du die, die dich umwandeln lassen wollten?«
»Sehr.«
»Tut mir leid, aber das reicht mir nicht.«
Lev schließt die Augen, spürt tief in sich hinein und denkt an seine Eltern. Daran, was sie für ihn geplant und wie sie ihn dazu gebracht hatten, es selbst zu wollen.
»Wie sehr hasst du sie?«, fragt Cleaver wieder.
»Ganz und gar«, antwortet Lev.
»Und wie sehr hasst du Leute, die sich Teile von dir einverleiben würden?«
»Ganz und gar.«
»Und wie sehr möchtest du, dass sie und alle anderen dafür bezahlen?«
»Ganz und gar.« Jemand muss für die Ungerechtigkeit bezahlen. Alle müssen bezahlen. Er wird dafür sorgen.
»Gut«, sagt Cleaver.
Die Intensität seiner Wut überrascht Lev selber, doch er hat immer weniger Angst davor. Er redet sich ein, dass das etwas Gutes ist.
»Vielleicht meint er es wirklich ernst«, sagt Blaine.
Wenn Lev diese Verpflichtung eingeht, gibt es kein Zurück, das weiß er. »Eines ist mir noch nicht ganz klar«, sagt Lev, »denn Julie-Ann … hat es nicht genauer erklärt. Ich möchte wissen, an was ihr glaubt.«
»An was wir glauben?« Mai sieht Blaine an, und beide lachen. Cleaver hebt die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. »Nein, nein, das ist eine gute Frage. Eine wahrhafte Frage. Sie verdient eine wahrhafte Antwort. Wenn du fragst, ob wir eine Mission haben: Nein. Also schlag dir das aus dem Kopf.« Er macht eine ausladende Geste mit beiden Armen. »Missionen gehören der Vergangenheit an. Wir glauben an Beliebigkeit. Erdbeben! Tornados! Wir glauben an die Kräfte der Natur – wir sind die Kräfte der Natur. Wir sind das Chaos. Wir wirbeln die Welt durcheinander.«
»Den Admiral haben wir schon ganz schön durcheinandergewirbelt«, sagt Blaine böse. Cleaver wirft ihm einen scharfen Blick zu, und Mai wirkt geradezu verängstigt. Das verunsichert Lev.
»Wie habt ihr den Admiral durcheinandergewirbelt?«
»Das ist erledigt.« Mais Körpersprache verrät Wut und Angst. »Wir haben ihn durcheinandergewirbelt, und nun ist es erledigt. Wir reden nicht mehr über Sachen, die erledigt sind. Okay?«
Cleaver nickt ihr zu, und sie entspannt sich ein bisschen. »Die Sache ist die«, sagt Cleaver. »Es spielt keine Rolle, wen oder was wir ins Chaos stürzen – Hauptsache, wir tun es. Nach unserer Sicht der Dinge kann sich die Welt nur bewegen, wenn sie erschüttert wird – stimmt’s?«
»Wahrscheinlich.«
»Also, wir sind diejenigen, die die Welt bewegen und erschüttern.«
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