Vollendung - Thriller
Ahnung gehabt, dass ihre Tochter überhaupt vermisst wurde – und soweit Markham feststellen konnte, wäre sie wohl kaum um den Schlaf gebracht worden, wenn sie es gewusst hätte. Wie bei den Wegen von Paul Jimenez in Boston war auch das Leben von Karen Canfield in Providence bisher nur in groben Zügen erkennbar – die traurige aber typische Geschichte einer Ausreißerin, die zur minderjährigen Stripperin, zur Drogensüchtigen und schließlich zur Prostituierten wurde. Eine Woche Ermittlungen hatten immerhin so viel zutage gefördert, dass Markham das Sackgassenschild am Ende dieses Ermittlungsstrangs sehen konnte. Tatsächlich behauptete die Handvoll früherer Bekannter Canfields, mit denen das FBI gesprochen hatte, sie habe häufig erzählt, dass sie clean werden und bei einer Tante in North Carolina leben wolle. Und deshalb hatten sie, als Karen nicht mehr in den Straßen von South Providence auftauchte, einfach angenommen, dass ihre Freundin weitergezogen sei – niemandem war es eingefallen, sie als vermisst zu melden.
Der eine Lichtstrahl in der Tragödie, die Karen Canfields Leben dargestellt hatte, war, dass ihre entfremdete Mutter um Zusendung von Karens Kopf und Brüsten bat, wenn das FBI damit fertig war.
Paul Jimenez’ Familie hingegen wollte nichts mit ihm zu tun haben, und deshalb würde das FBI für alle Zeiten auf seiner Leiche und Esther Muniz’ Händen sitzen bleiben.
Markham überflog rasch seine E-Mails und gelobte, sich nach seiner Rückkehr aus Boston daranzumachen – nach der Videokonferenz mit Quantico, in der er und Burrells Team einmal mehr über die laufenden forensischen Untersuchungen und gerichtsmedizinischen Berichte sowie die begonnenen gemeinsamen Ermittlungen über das Leben der jüngsten Opfer informiert werden sollten. Markham konnte jedoch das bohrende Gefühl nicht ignorieren, dass das alles nur Zeitverschwendung war; die leise Stimme in seinem Kopf, die ihm einflüsterte, der Bildhauer sei zu schlau, um sich auf diese Weise fangen zu lassen – also zuzulassen, dass man seine Spur über sein Material fand. Tatsächlich schien es Markham, als habe der Bildhauer an alles gedacht: von den falschen Nummernschildern über die Satellitenschüsselattrappe an seinem Transporter bis zu dem Umstand, dass er absolut keine Spuren in dem Material hinterließ, das er für seine Skulpturen verwendete – außer jenen, von denen er offenbar wusste.
Aber es muss etwas geben, das er übersehen hat, dachte Markham. Etwas, das vielleicht bis zu dem Mord an Gabriel Banford zurückreicht, oder bis zum Diebstahl der Pietà in St. Bart. Etwas, das der Bildhauer getan hatte, als sein Plan noch nicht vollständig ausgeformt war, oder vielleicht etwas aus der Zeit, als er noch experimentierte.
Ja, Markham spürte instinktiv, dass die jüngste Ausstellung des Bildhauers ihn irgendwie vom Kurs abgebracht hatte – dass er von Anfang an genügend Informationen besessen hatte, um den Michelangelo-Mörder zu erwischen.
Die im Stein schlafen, sagte Markham zu sich selbst. Es war Cathy, die mich zum Aufstellungsort der Pietà geführt hat – ihr Buch, das mich dem Bildhauer so nahe gebracht hat, dass ich in jener Nacht auf ihn hätte spucken können. Vielleicht steht alles, was ich brauche, um ihn zu fangen, da drin.
Mit einem Mal begriff Markham, dass er nichts mehr aus Quantico erfahren musste. Er wusste bereits, der vorläufige Bericht des Coroners würde zeigen, dass Steve Rogers und Paul Jimenez an einer Überdosis Epinephrin gestorben waren und dass die glänzende weiße Farbe, mit der die Pietà des Bildhauers bedeckt war, Spuren von fein gemahlenem Carrara-Marmor aufwies – Marmorstaub, der ohne Frage aus der gestohlenen Pietà von St. Bart gewonnen worden war. Vielleicht ließ sich etwas aus dem schweren, gestärkten Leinen erfahren, das der Bildhauer für die Gewänder der Jungfrau Maria verwendet hatte, oder aus dem Felsen von Golgotha.
Aber dennoch …
Der Schlüssel, sagte sich Markham, muss in Die im Stein schlafen stecken.
Markham schaute auf die Uhr in der Ecke seines Computermonitors – er würde bald aufbrechen müssen, wenn er es zu der Besprechung in Boston schaffen wollte. Er war hin- und hergerissen. Er hatte das Gefühl, dass er in Providence bleiben sollte – er wusste einfach, die Lösung zur Ergreifung des Michelangelo-Mörders war hier auf seinem Schreibtisch zu finden, in dem Buch in seiner Aktentasche. Aber Markham wusste auch, dass er Cathy brauchte;
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