Vollmeisen
ganzen Lügengeschichten werden mich um Jahrzehnte altern lassen, da wird auch keine Pflegelinie mehr etwas dran ändern können.
Zu Hause überlieà ich es meinem Vater, meiner Mutter beizubringen, dass ihr Auto kaputt und ihre Tochter bekloppt war, und flüchtete in mein Zimmer. Das Küsschen auf die Wange, das ich mir von Nick für die Bereitstellung von Papas Werkstatt eingehandelt hatte, machte wohl doch nicht alles wett. Es war eine saublöde Idee gewesen, das musste sogar ich mittlerweile einsehen.
Am Freitagabend saà ich rastlos in meinem Zimmer und grübelte über mein Treffen mit Simon nach. Die wichtigste Frage war natürlich: Was um alles in der Welt ziehe ich an? Und auch nicht ganz unwichtig: Sollte ich wirklich nachts um halb eins alleine in ein dunkles, verlassenes Gewerbegebiet fahren? Es könnte ja auch eine Falle sein. Womöglich hatte der dicke Belgier Simon ja inzwischen selbst gefunden und ihn gezwungen, mich dorthin zu bestellen, aus Rache oder so? Vielleicht könnte ich Nick fragen, ob er mit mir essen gehen will und danach einen kleinen Spaziergang durchs Gewerbegebiet vorschlagen? Aber dann dachte er bestimmt, ich wäre eine von diesen Perversen, die sich nachts mit Gleichgesinnten auf verlassenen Plätzen treffen, um es da mit wer weià wem zu treiben. Nee, so sollte er nicht von mir denken. Britt wäre eine gute Wahl, um mich zu begleiten, aber die saà immer noch maulend auf Mallorca. Also lief es mal wieder auf Melinda raus. Zwar brauchte man keine Feinde mehr, wenn man sie als Bodyguard hatte, aber sonst fiel mir niemand ein. Ãberraschenderweise war sie begeistert: »Klasse, den Schleimer machen wir fertig. Mamas Bratpfanne brauchen wir auch nicht mehr, ich habe mir eine professionelle Ausrüstung zugelegt.«
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich mit Simon reden und ihm nicht einen mit was auch immer überziehen wollte, aber sie hörte schon nicht mehr zu, sondern machte ein paar Kung-Fu-Bewegungen und schrie dazu mit gellender Stimme: »Hoyaa â du Schwein bist Geschichte!«
Ãh ja. Um Melinda würde ich mich später wohl auch mal kümmern müssen. Aber jetzt brauchte ich erstmal ein passendes Outfit. Unsere Meinungen darüber, was »passend« war, lagen allerdings weit auseinander. »Ich will mich nicht zu sehr aufbrezeln, das wirkt ja so, als wollte ich ihn wiederhaben«, gab ich zu bedenken.
»Willst du doch auch. Kann ich zwar nicht verstehen, aber bitte, es ist dein Leben. Dann müssen wir dich aber richtig scharf anziehen, damit er merkt, was er an dir hatte. Wenn du in deinen üblichen langweiligen Klamotten vor ihm stehst, fragt der sich doch nur, warum er dich nicht viel früher gegen âne geilere Schnitte eingetauscht hat.«
Hm, da könnte sie sogar recht haben. »Okay«, sagte ich zu ihr, »das kann vermutlich nicht schaden. Aber lass uns erstmal gucken, ob wir hier irgendwo was zu trinken finden, nüchtern steh ich das nicht durch.«
Melinda grinste: »In der Hausbar steht nur eine angegammelte Flasche Sherry und eine halbe Flasche Eierlikör, aber ich weiÃ, wo sie die guten Sachen verstecken, komm mit.«
Zum Glück hatten unsere Eltern ihren Kegelabend, so blieb ihnen der Anblick ihrer Töchter erspart, die wie Diebe in den Keller schlichen und, nachdem sie zahlreiche Konserven mit eingelegtem Gemüse beiseitegeschoben hatten, triumphierend mit einer Literflasche Wodka wieder hochkamen. Nachdem ich drei groÃe Gläser mit viel Wodka und wenig Orangensaft intus hatte, wusste ich überhaupt nicht mehr, warum ich jemals vor diesem Treffen Angst gehabt hatte. Das war doch alles wunderbar, ich würde meinen Simon wiedertreffen, ich, die Einzige, an die er sich in seiner unverschuldeten Not wenden konnte. Und ich sah richtig heià aus, zumindest nahm ich das an, denn mein Spiegelbild wirkte merkwürdig verschwommen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich zu konzentrieren. War ich das da im Spiegel? Die Frau mit den schwarzen Overknee-Stiefeln, dem kurzen Rock und dem Top, das bei einem tiefen Atemzug bestimmt platzen würde? Ich wusste genau, dass ich irgendeiner Frau verdammt ähnlich sah, aber ich kam einfach nicht drauf, welcher. »Melinda«, nuschelte ich, »ist das wirklich heiÃ? Seh ich nich komisch aus?«
»Hör doch endlich mal mit dieser ständigen Verhuschtheit auf«, blaffte sie mich an,
Weitere Kostenlose Bücher