Vollmondfieber: Roman (German Edition)
einmal wieder auf. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es einen Zusammenhang mit der allgemein herrschenden Unruhe unter den Übernatürlichen gibt. Wir konnten bisher noch nichtfeststellen, wie und wo genau der Mythos dieses Mal wieder wachgerufen wurde, aber wir arbeiten daran.«
»Schon jetzt gehen Gerüchte um?« Vor Anspannung hatte ich die Luft angehalten und blies sie nun aus. Es klang wie ein Aufkeuchen. »Das kann nichts Gutes bedeuten!«
»Beim derzeitigen Stand der Technologie«, meinte Vater kopfschüttelnd, »habe ich keine Möglichkeit, die Sache aufzuhalten. Es bringt mich zur Weißglut! Aber es beweist auch zweifelsfrei, dass es bereits Gerüchte und Unruhe in unseren eigenen Reihen gibt. Darum ist unsere absolute Priorität, dich zurück in dein altes Leben und außer Gefahr zu bringen. Wenn es uns gelingt, der Sache den Schwung zu nehmen und deine Wandlung unter Verschluss zu halten, haben wir eine Chance, den Aufruhr zu stoppen. Wenn nicht, stehen wir womöglich vor einem Bürgerkrieg. Meine Aufgabe als Rudelführer ist es, das um jeden Preis zu vermeiden.«
Dieser gottverdammte Kain-Mythos!
Ein paar nicht gereimte Verse, maschinengeschrieben auf einem einfachen Blatt Papier, hatten mein ganzes Leben bestimmt. Die Zeilen waren exakt einen Monat nach meiner Geburt ohne Poststempel im Habitat eingetroffen. Ob der Mythos auch nur einen Funken Wahrheit enthielt, war von jeher ohne jede Bedeutung gewesen. Auf Anhieb hatte er sein Ziel erreicht – Unruhe im Rudel zu stiften und mir dabei das Leben zur Hölle zu machen. Ich kannte die Zeilen auswendig. Sie waren für immer in mein Gehirn eingebrannt wie ein Makel, ein böser Fluch.
Wenn das Weib in der Haut des Wolfes heranwächst, ist die
ungeborene Tochter des Kain zur Welt gekommen;
in ihr wird die Bestie schlummern, verborgen sein wird ihre
wahre Gestalt;
von diesem Tage an werden die Wölfe der Nacht bezahlen;
F leisch und Blut wird ihre machtvolle Hand ihnen von den
Knochen ziehen;
die Art der Wölfe wird untergehen;
wenn die Tochter des Bösen die Herrschaft ergreift.
Hielt ich mich für die Tochter des Kain? Natürlich nicht. Aber Furcht besaß Macht über normale Menschen wie über Übernatürliche, besonders viel Macht über die extrem abergläubischen Wölfe. Das Auftauchen des Kain-Mythos hatte, wie man mir erzählt hatte, die Wölfe regelrecht in den Wahnsinn getrieben. Viele hatten von meinem Vater verlangt, dass er meinem Leben ein Ende setzt. Es hatte ein paar Jahre gedauert, diese Angst zu bezwingen. Aber der Mythos war nicht aus der Welt. Während meiner ganzen Kindheit hatte er immer wieder sein hässliches Haupt erhoben und mir endlos Ärger beschert. Am Ende war dann doch wieder Ruhe eingekehrt. Aber das lag nur daran, dass ich mich in der Pubertät nicht zum Wolf gewandelt hatte. Schlussendlich hatte ich mir den Weg aus dem Habitat freigekämpft. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Und nun war ich zurück.
»Das kann kein Zufall sein«, murmelte ich. Mein Leben wäre verdammt viel einfacher gewesen, würde nicht unsere ganze Geschichte auf Mythen und Legenden basieren und wären Wölfe nicht die abergläubischsten Kreaturen auf Erden.
Mein Vater räusperte sich. »Die Wölfe können spekulieren, soviel sie wollen, solange sie keinen sicheren Beweis haben. Den aber können sie nur von mir bekommen. Dieser Zustand von Ungewissheit soll auch so bleiben. Daher tendiere ich dazu, dich zurückzuschicken. Aber, ehrlich, Jessica: Dich nicht in meiner Nähe zu haben, nicht imstande zu sein, dich zu beschützen, widerspricht meiner ganzen Art.«
Ich rutschte zum Rand des Sofas. »Dad, hör mal!« Ich legteihm die Hand aufs Knie. Die Berührung fühlte sich gut an. »Ich glaube, es ist tatsächlich das Beste. Ich weiß, es wird nicht einfach. Aber ich möchte wenigstens versuchen, das Leben weiterzuleben, das ich mir geschaffen habe. Außerdem wäre hierzubleiben auch keine Garantie dafür, dass ich in Sicherheit bin. Du kannst mir nicht ständig das Händchen halten oder mich bis in alle Ewigkeit in mein Zimmer einsperren. Wenn die Wölfe so oder so schon nervös sind, ist es besser, wenn ich mache, dass ich hier wegkomme. Lass es uns so versuchen, okay?«
Mein Vater blickte mich lange schweigend an. Dann wechselte er wieder einen Blick mit James. Wortlos fanden die beiden zu einer Übereinkunft. »Also gut, wir versuchen es so.« Feierlicher Ernst lag in seinen Worten. »Aber ich werde dich nicht ohne angemessenen Schutz
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