Vollmondstrand
Brille braucht, nur du und deine Psychotanten, ihr wollt unbedingt ›schaßaugert‹ sein!«
Da war was dran.
19
Ich und meine Psychotanten, dachte Rosa, als sie in der Praxis Teetassen sortierte. ›Psychotante‹, der Begriff war nicht sehr schmeichelhaft. Maria hatte einmal gemeint, er stamme von Menschen, die es nicht wagten, ihre ausgetrampelten Gedankenpfade zu verlassen, um etwas Neues zu probieren. Sie wären schlicht neidisch auf Berufe, die mit Wachstum und Entwicklung zu tun hätten. Vielleicht.
Wieso aber griff man so gern zu schnellen Lösungen bei selbst ernannten Experten?
»Es ist einfacher, einer Vase, die an der falschen Stelle steht, die Schuld zu geben oder einer bösen Zahnfüllung, anstatt sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.« Marias Meinung dazu war ebenso klar.
Was hatte Rosa alles sehen müssen in den letzten Jahren. Menschen am Rande des Selbstmords. Einer Frau riet eine Feng-Shui-Beraterin, nur ja keine Pillen zu nehmen, allein den Käse wegzulassen, würde das Gleichgewicht schon wieder herstellen. Rosa befürchtete, dass die Patientin die in Aussicht gestellte Heilung nicht erlebt hätte, und schickte sie zum Facharzt.
Oder ein Patient, der bei einem Kinesiologen Engelsprays aller Art erstanden hatte, wobei ihm dieser ungefragt erläuterte, sein Problem wäre nicht das Ausgebrannt-Sein, das er spürte, sondern, dass seine lang verstorbenen Eltern ihn ins Jenseits hinüberziehen wollten. Spätestens dann war der arme Mann reif für die Klinik, wohin ihn Rosa auch überwies. Oder, besonders dreist: Besorgte Eltern, denen von einem Heiler erklärt wurde, ihr Kind sei ein Außerirdischer … Die Geschichten nahmen kein Ende!
»Wie soll jemand mit psychischen Problemen umgehen können, wenn er nicht ausgebildet wurde, diese überhaupt zu sehen?«, hatte Maria damals gemeint. »Hast du einen Hammer, ist jedes Problem, das sich dir stellt, ein Nagel!«
Und so wurde heftig drauflosgehämmert.
Nicht jeder konnte Schweine töten, sie zerteilen und zu Mettwurst verarbeiten, und nicht jeder konnte sich tagtäglich den oft herzzerreißenden Nöten der Menschen aussetzen: »Helfen Sie mir, Sie sind meine letzte Hoffnung!« Sich dabei zurückzulehnen, ohne gefühlskalt zu werden, lernt man nicht an der Uni, dachte Rosa, während sie weiter Teetassen einräumte.
»Vollmondstrand – wo bist du?«
20
Rosa war dabei, die Post zu sortieren, nachdem das Geschirr an seinem Platz war. Da fiel eine bunte Ansichtskarte zu Boden. Als sie sich bückte, sah sie das Foto eines weißen Steinhauses, üppig mit Bougainvillea berankt. Sie drehte die Karte um und versuchte, den Absender zu erkennen. Die Handschrift war ihr gänzlich fremd.
›Liebe Rosa, lieber Marti‹, stand da zu lesen, ›ich sitze gerade in der Bar Anita und bin in Gedanken bei euch. Kommt ihr heuer zur Halloween-Party von John? Dann bestell ich wieder einen Tisch!
Seid gegrüßt und viele Bussi, Mariann
PS: Es ist herrlich, ich sitze in der Septembersonne bei Cafe con leche und Bocadillos‹
Mariann, die Gute schreibt noch Ansichtskarten, wie nett. Rosa drehte die Karte zurück auf die bunte Seite und klemmte sie ans Pinboard.
Weit weg war Mariann in diesem Moment, weiter weg als nur übers Meer. Und doch nah genug, um Rosa zugehört zu haben?
Bunte Erinnerungen tauchten aus dem Grau des Alltags auf. Was hatten wir für eine schöne Zeit, letztes Jahr auf der Party in der Bambushöhle, dachte Rosa mit einem Hauch von Wehmut. Sie, mit schreiend roter Perücke und kunstvoller Körperbemalung, genauso wie Mariann … Wie viele Leute sie wieder gekannt hatte, die halbe Insel! Und wie herrlich unkompliziert es zugegangen war. Gespräche hatten sich ergeben, die sich allesamt darum drehten, wie anders das Leben auf der Insel doch war. Keine Frage nach Beruf und Herkunft, allein das Jetzt war wichtig gewesen.
Dabei hatten Marti und Rosa lediglich ihren Kennenlerntag am 30. Oktober in der Wärme verbringen, in einem feinen Hotel einchecken und bei Gelegenheit ein paar Immobilien anschauen wollen. Das taten sie gern.
Überall, wo es ihnen gefiel, lebten sie den Traum, ihr Traumhaus könnte sie finden!
Und dann war beim Einchecken am Flughafen plötzlich Mariann hinter ihnen gestanden. Im Hofer-Sackerl einen Gartengrill, sonst nichts bei sich. Wozu auch, sie hatte 500 Kleider im Kasten ihrer Finca, und …
»Mahlzeit, Schatz. Bist du schon fertig?« Eine Stimme unterbrach ihre Gedanken, es war Marti. Er steckte den Kopf zur Tür
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