Vollmondstrand
angehende Volksschullehrerin, und eine ältere, etwas unscheinbare Dame, in Braun gewandet. Alle schienen es nicht erwarten zu können, endlich loszulegen.
»Wir warten noch auf eine Teilnehmerin«, informierte Maria die Runde. Da klingelte es auch schon: »Ah, ich glaube, das ist sie!« Maria eilte zur Tür und kam zurück mit einer Frau in Rosas Alter. Sie war klein, hatte brünettes, halblanges Haar und trug eine Brille. Brav zog sie durch die Runde und stellte sich mit den Worten vor: »Entschuldigung, ich bin Margarethe.«
»Das macht doch nichts, dass du Margarethe bist, also mir nicht!«, hätte Rosa am liebsten geantwortet. Hier war sie frei, hier konnte sie machen, was sie wollte! Endlich brauchte sie nicht auf ihr Gegenüber Rücksicht zu nehmen, die Entwicklung im Auge behalten und den ganzen Kram. Hier konnte sie sich gehen lassen, hier war sie die Klientin!
»Servus, ich bin Rosa.« Diese Worte verließen ihren Mund. Etwas anderes konnte sie Maria nicht antun. Jetzt noch nicht. Der Kurs hatte nicht einmal begonnen!
Wenig später standen alle fünf Aspiranten und -innen vor der nackten Leinwand und blickten, mehr oder weniger gehemmt, ins ›Auge des Tigers‹, auf die weiße Wand.
Maria wäre nicht Kunsttherapeutin, wenn sie nicht wüsste, wie damit umgehen.
Keine Stunde später wurde schon gekleckert und geschmiert, gepinselt und gerührt. Rosa fühlte sich wohl in der ungewohnten Rolle:
»Wie geht’s dir mit dem Rot?«, fragte sie ihre Nachbarin, die Dame mit dem Haarturm. Das Du war obligatorisch in der Runde.
»Na ja, gewöhnungsbedürftig«, antwortete diese und spreizte den kleinen Finger ab, während sie den Pinsel erneut in die Farbe tauchte.
»Wieso?«
»Ich bin nicht so der rote Typ.«
»Sondern?«, fragte Rosa neugierig. Vielleicht war sie ja selbst auch nicht der rote Typ.
»Ich bin mehr der blaue«, kam als Antwort.
»Aha!«
Das Fragenstellen sein zu lassen, fiel Rosa schwer. Mit der Zeit genoss sie es jedoch ein wenig, etwas von sich selbst einbringen zu können: »Ich hab gar nicht gewusst, wie gern ich Türkis mag. Oder Rosa, wow. Früher war Dunkelrot meine Lieblingsfarbe«, erzählte sie dem Herrn mit der Pfeife, die dieser auf allgemeinen Beschluss kalt im Mundwinkel lassen musste.
Am Ende des ersten Abends war Rosa zwar angepatzt, aber nicht schlecht gelaunt. War halt ein Versuch, dachte sie.
»Schön, dass ich kommen durfte, Maria.«
»Bis morgen, Süße. Da geht es erst richtig zur Sache!« Rosa verließ die Freundin als Erste, von den anderen Teilnehmern wollte noch keiner heimgehen.
42
Marti blickte auf, als er das Auto hörte. Auch Bubba Billian und Bubba Lillian kannten die Geräuschkulisse, wenn Rosa nach Hause kam. Sie bezogen Stellung mit Blick auf die Haustür.
»Bist du unter die Anstreicher gegangen, Schatz? Steht dir gut«, lachte Marti, als er Rosa hereinschleichen sah.
»Nein, Kunsttherapie die Erste. Ich muss zuallererst ins Bad!«
»Und dann? Gibt’s schon etwas zu begutachten? Kann ich mir einen ›Original Rosa Talbot‹ über den Kamin hängen?«
»Vielleicht morgen. Heute geh ich nur noch ins Bett.«
»Um viertel neun? Hast du überhaupt schon etwas gegessen?«
»Solche Tage, wo du einfach nur müde bist und von deinem weichen Bettchen träumst, kennst du die nicht? Nicht mal lesen mag ich mehr.«
Marti überlegte. »Höchstens, wenn ich krank werde.«
Rosa riss die Hände in die Höhe. »Nein, bitte! Verschrei’ das nicht.«
Marti wandte sich seinem Laptop zu. »Leg dich hin, Schatz, morgen sieht die Welt schon anders aus.«
»Und du? Was machst du?«
Marti gähnte. »Ich halte Wacht!«
43
Marti sah schon von Weitem, dass etwas nicht in Ordnung war. »Am besten wird es sein, du sagst deine Termine heute ab. Du kannst ja gar nicht reden!« Rosas Hals war dick und tat weh.
»Hmmhm, kannst du das bitte für mich übernehmen?«, krächzte sie zurück.
Ein Tag für mich, welches Geschenk, dachte Rosa nach einer Weile. Der Hals tut zwar weh, aber die Müdigkeit ist besser heute. Was fang ich denn an mit dem unverhofften Zeitgeschenk? Sicherlich nichts aufarbeiten, alte Rechnungen schreiben oder so. Was könnte ich tun?
Sie entschloss sich, ein Bad einzulassen. Nachher würde sie noch mal zurück ins Bett schlüpfen und ausdampfen.
Rosa dachte an den Aufwand, den es erforderte, den verplanten Tag freizubekommen (immerhin mussten alle Beteiligten rechtzeitig erreicht werden), an ihre Klienten, die sich darauf eingestellt hatten (und
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