Vollstreckung - Sturm, A: Vollstreckung
in der Dienststelle erwartet. Sandra kündigte ihr Kommen an und bat, falls Polizeiobermeister Unger einträfe, ihn zurückzuhalten.
Als Sandra eintraf, wurde sie bereits von Polizeiobermeister Unger erwartet.
»Da habe ich großes Glück, dass Sie heute Dienst haben. Die Sache duldet nämlich keinen Aufschub.« Mit diesen Worten reichte Sandra dem Polizeiobermeister die Hand und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Auf ihre Bitte zogen sie sich in einen freien Raum zurück und nahmen gegenüber an einem Tisch mit Resopalplatte Platz. Bevor Sandra mit ihrem Anliegen herausrückte, musterte sie den Mann ungeniert. Polizeiobermeister Unger, ein großer, kräftiger Mann, war etwa in ihrem Alter und hinterließ bei ihr einen aufrichtigen Eindruck. Sandra beschloss, gleich zur Sache zu kommen. »Können Sie sich noch an die Vergewaltigung von Sarah Lefort im April 2006 erinnern?«
Der Polizeiobermeister überlegte keine Sekunde. »Ja, so als wäre es gestern gewesen. Das kommt Ihnen sicher merkwürdig vor, vor allem weil es nicht der einzige Vorfall dieser Art in den letzten Jahren war. Aber die junge Frau hinterließ einen bleibenden Eindruck.«
»Inwiefern?«, fragte Sandra, die aus ihrer Verwunderung keinen Hehl machte.
»Zuerst wegen ihrer Stärke, physisch und psychisch. Es ist eine beachtliche Leistung, den Willen und die Kraft aufzubringen, sich nach einer derartigen Peinigung zum nächsten Polizeirevier zu schleppen. Darüber hinaus empfand ich tiefes Mitgefühl für diese schöne Frau, die so Grässliches durchstehen musste.«
Sandras Miene verlor nun alle Freundlichkeit. »Dann begreife ich aber den Inhalt Ihres Berichtes nicht so recht.« Mit diesen Worten reichte sie Polizeiobermeister Unger das mitgebrachte Schriftstück. »Würden Sie mir bitte helfen, die Diskrepanz zwischen Ihren Worten und dem Inhalt des von Ihnen unterzeichneten Protokolls zu verstehen?«, fügte sie spitz hinzu.
Je weiter Polizeiobermeister Unger mit dem Studium des Berichtes vorankam, umso finsterer wurde seine Miene. Als er fertig war, ließ er das Blatt Papier wie etwas Ekelhaftes fallen und sagte fassungslos: »Das ist weder mein Bericht noch ist das meine Unterschrift. Sie sieht zwar der meinen ähnlich, ist es aber nicht.«
Sandra konnte nicht glauben, was sie da hörte. Der Polizeiobermeister machte einen ehrlichen Eindruck. Wenn er nicht log, musste ein anderer den Originalbericht vernichtet und einen neuen erstellt haben.
»Könnten Sie sich vorstellen, wer Ihr Protokoll gefälscht hat?«
»Nein, es wurde vorschriftsmäßig an den ermittelnden Staatsanwalt weitergereicht.« Polizeiobermeister Unger war sichtlich aufgebracht. »Wer aus unseren Reihen hätte denn ein Interesse, dieses grauenvolle Verbrechen herunter zu spielen?«
»Um das zu erfahren, ermittle ich in diesem Fall.« Sandra hielt sich bedeckt, sie glaubte dem Schutzpolizisten zwar, aber solange noch der geringste Zweifel bestand, wollte sie nichts preisgeben.
»Warum kommen Sie erst nach drei Jahren damit zu mir? Hat die junge Frau neue Ermittlungen angestoßen?« Der junge Polizeiobermeister beugte sich über den Tisch und sah Sandra fordernd in die Augen.
»Sarah Lefort lebt nicht mehr. Sie hat sich zwei Monate nach der Vergewaltigung das Leben genommen.«
»Oh mein Gott!« Polizeiobermeister Unger sackte fassungslos in seinem Stuhl zusammen. Der verstörte Mann barg seinen Kopf in den Händen und begann zu schluchzen. Sandra war lange genug Polizistin, um vorgetäuschten Schmerz von echtem zu unterscheiden. Hier wurde nicht gespielt. Die Verzweiflung des Schutzpolizisten war real. Stockend brachte er hervor: »Da kommt eine geschundene Frau zu uns, damit wir ihr helfen, und sie wird von uns betrogen und in den Tod getrieben.«
Sandra fühlte mit dem erschütterten Mann. Das Sarahs Tod solche Emotionen in ihm wachriefen, brachte ihn ihr näher. Sandra empfand auf einmal eine tiefe Verbundenheit mit Polizeiobermeister Unger. Sie stand auf, trat hinter ihn und drückte seine Schultern. »Sag nicht
uns
. Es kann nur ein Einzelner gewesen sein. Ich werde herausfinden, wer ein Interesse daran hatte, den Bericht zu fälschen.«
Polizeiobermeister Unger drehte sich zu Sandra und sah ihr tief in die Augen. »Ich nehme dich beim Wort. Finde heraus, warum einer von uns dieses Verbrechen vertuschen will. Vielleicht will er sogar einen der drei Täter decken. Leider konnten wir damals nur zwei dingfest machen.«
Nun war es an Sandra fassungslos zu sein.
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