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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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zu Tag hustete sie häufiger beim Arbeiten. Ich wusste nicht, warum sie sich so quälte. Wie Sie Ihre Hirnwichserei abstellen … Mit dem Begriff »Hirnwichserei« musste das Denken gemeint sein. Ich erinnerte mich daran, dass sie oft, wenn Silke von dem Seelenleben der Pferde redete, eifrig zustimmte. »Ja, es sind keine Tiere, es sind fühlende Wesen«, sagte sie einmal. Vielleicht war sie hier, um auch ein ganz und gar fühlendes Wesen zu werden. Ich fürchtete, als ich über sie nachdachte, so ein Mensch, der nur noch fühlte, aber nicht mehr dachte, weil er die Möglichkeiten unseres Denkens als unvollkommen erkannte und daher für gefährlich hielt, war leicht zu überzeugen. Raubtiere und Trottel, Rationalisten und Emotionalisten, Nur-Denker und Nur-Fühler. Letztere sind sicher harmloser als Erstere, aber Letztere sind das Stimmvieh für Erstere.
    Am vierten Tag war Christi Himmelfahrt, auch im Dorf hatte der Bioladen zu, die Bauarbeiter arbeiteten nicht, nur wir Baugäste schleppten und hämmerten weiter Kiefernstämme an Zäune der Fuhrhalterei. Silke lag auf ihrem Sofa im Bauwagen und telefonierte. Sie war im fünften Monat schwanger. Wir klopften, schippten, schleppten routiniert, und Silke kam manchmal, um neue Arbeitsaufträge zu geben. Jeden Morgen sangen wir: »Round and round the earth is turning«, und die Melodie ging uns keine Sekunde mehr aus dem Kopf.
    Heute musste ich Platz schaffen für ein neues Plumpsklo. Es kam mir so vor, als seien wir Baugäste die Leibeigenen und die Sieben-Lindener die Feudalherren. Ich schob meine Nelke im Mund hin und her, im Kopf lief »Round and round« in einer Endlosschleife, und ich fühlte die innere Freiheit des schwarzen Sklaven, der den Blues im Blut hatte.
    Unser Erdloch wurde bald fertig. Wir hatten ein schönes Relief geschaffen. Das Loch enthielt von Hellgelb über Ocker bis rötlich Braun und Schwarz alle Schattierungen, die der Boden der Altmark zu bieten hat. Es war ein Farbenspiel wie in der Quebrada de Humahuaca in Argentinien. In einem Meter Tiefe war die Erde ein hellbeiger Sand wie von einem Traumstrand. Es war toter Sand. An vier Tagen hatte ich darin nicht mehr Lebensspuren gefunden als einen Engerling, einen Regenwurm und einen Knochen. Eine letzte Stunde schaufelte ich mit Hardy. Alle Gedanken versickerten in dem Sand. Die Wahrnehmung war ganz auf den Erdkanal fixiert. Es war schön, die Hirnwichserei abzustellen. Aber wenn das mein Leben wäre, würde ich ein anderes Buch lesen wollen: »Wie Sie Ihre Oberarmwichserei abstellen …«
    Der Spaten durchstieß etwas Weißes. Es war innen dickflüssig, außen hart, drei Zentimeter dick und sandig. War es ein alter Knochen? Eine Wurzel? Ein Trüffel? Ich wollte jetzt einen Trüffel finden und schaufelte wie ein Irrsinniger weiter. Ich stieß auf etwas Poröses. Es war ein blutwurstroter Sandstein, der von kleinen Steinchen durchsetzt war. Er sah nicht aus wie ein Trüffel, aber ähnelte einer Leberwurst. Ich hatte eine vegane Trüffelleberwurst gefunden.
    In der Kaffeepause lernte ich Gabi Bott kennen, die eine der politisch engagiertesten Sieben-Lindener war. Sie trug Azurblau, ihr Haar wehte im Wind, und ihre Augen leuchteten blau. »Die Ökodorfbewegung wächst von Jahr zu Jahr, und es ist wichtig, voneinander zu wissen und sich zu vernetzen. Wir sind ja nicht hier, um für uns ›Schöner Leben auf dem Lande‹ zu verwirklichen«, sprach sie. »Mein Ziel ist es, an einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel mitzuwirken.«
    Abends war ich mit dem örtlichen Fahrradreparateur Sancho zum Tee verabredet, ein grauhaariger Altachtundsechziger, der barfuß in den Gemeinschaftsraum kam. Auch er war einer der politischen Köpfe hier, Jahrgang 1938, Betreiber einer politischen Website, dem Vernehmen nach Außenseiter. Er sagte, wie die meisten seiner Nachbarn sei er auch deswegen hier, um eine Bewegung zu fördern, die angemessene Antworten auf die drohenden Katastrophen böte. Als diese Katastrophen sah er das baldige Ende des Erdöls an, also den »Peak Oil«, aber auch den Rückgang aller nicht erneuerbaren Ressourcen, den »Peak All«: Öl, Stahl, Erze, Seltene Erden. Unsere »westliche Zivilisation und alle Zivilisationen, die kapitalistisch infiziert sind«, hätten den Eisberg bereits gerammt wie einst die »Titanic«, sagte Sancho, der eigentlich Dieter Federlein hieß. Die Ausbeutung der Natur und die Ausbeutung der Armen und politisch Schwachen hielt Sancho für zusammengehörig. Anders als

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