Vom Aussteigen und Ankommen
öffentlichen Hallenbad. Der August war der Wüstenmonat. Dann verließ die Gemeinschaft Köln und machte in einem anderen Kloster Urlaub, wo der Tag ähnlich verlief wie am Rhein.
Ich sagte Jean-Tristan, dass mich die harten Worte der Psalmen befremdet hätten. Das wunderte ihn nicht, aber Verständnis hatte er dafür auch nicht. »Wer das Alte Testament nicht versteht, versteht Jesus nicht«, sagte er. »Jesus hat selbst diese Psalmen gebetet.« Wer nicht täglich das Stundengebet lese sowie den Psalm zum Tag und das Evangelium, sei daher streng genommen kein Christ. Er nahm es streng, wirkte aber nicht so, sondern heiter. Viele, die sich Christen nannten, seien keine Christen, sagte Jean-Tristan. Und so viele nannten sich ja auch nicht mehr Christen. Frankreich sei heute wieder heidnisch. In zahlreichen Dörfern gebe es keine Kirche mehr, drei Prozent gingen auf dem Land noch in den Gottesdienst.
Ich hatte erwartet, eine moderne städtische Glaubensgemeinschaft zu besuchen. Stattdessen war ich bei orthodox-katholischen Alttestamentariern gelandet.
Ich kannte das Alte Testament nicht gut. Dann konnte ich vielleicht auch Jesus nicht verstehen. Ich schwieg und hielt mich den halben Tag in Gottesdiensten auf, doch die alttestamentlichen Gebete waren mir fremd. Gott war mir fremd. In einem Kloster fiel das ins Gewicht, denn außer dem Gebet gab es hier ja fast nichts.
Nachmittags, nach der Lectio Divina, saß ich in meiner Zelle und wurde etwas unsicher, wer ich war. Ich machte eine Skizze, zeichnete einen kleinen Planeten, den ich »Kirche« nannte, ganz rechts aufs Blatt, einen großen links, den ich »Zeitgeist« nannte, und klein im Zeitgeistkreis, wenn auch am Rand, einen Punkt, der ich selbst war. Ich, der Punkt, kreiste um den Kern des Zeitgeistes, in naher Umlaufbahn, und mein Widerspruchsgeist und kleiner Glaube war nur aus meiner eigenen Perspektive vom Zeitgeist entfernt. Aus weiterer Entfernung aber musste es so aussehen, als sei ich einer der vielen Punkte, die den Zeitgeist bildeten. Von der Kirche war ich weit entfernt. Auch wenn man sehr weit aus dem Ausschnitt herausgezoomt hätte, hätte man Gott selbst nicht gesehen, und die Kirche wäre auch nur als ein Molekül erschienen, das um unseren postmodernen Zeitgeist oder in einigem Abstand um Gott kreiste – oder hin und her zitterte. Wer wusste es? Und vielleicht war Gott gar kein Fixpunkt, sondern überall in den Zwischenräumen, oder in den Köpfen … o Gott, o Gott – ich hörte auf.
Vor dem Abendessen bat Nicolas-Marie den Herrn darum, unsere Suppe zu segnen. Hier gab es gesegnete Spargel-Tütensuppe von Maggi, und in Sieben Linden gab es profane Bio-Rohkost. Die Rohkost war besser. Bevor die Suppe heiß war, verlas ein Bruder die Heiligenbiografie zum kommenden Tag. Es war die der Katharina von Siena, sie wurde als fromme spirituelle Erneuererin der christlichen Kirche im dreizehnten Jahrhundert dargestellt, einer Zeit, in der der moralische und intellektuelle Zustand des Klerus miserabel war. Katharina hatte ekstatische Christuserscheinungen und entschied sich, die Kirche zu reformieren, und nicht, deren Spaltung voranzutreiben, indem sie die Gegenpäpste anerkannte. Ihre Biografie endete mit den beiden Sätzen, sie sei heute die Schutzheilige der Färberinnen und helfe gegen Kopfweh und die Pest, was ich dann wieder etwas komisch fand.
Für den folgenden Tag hatten mich die Schwestern zum Mittagessen in ihre Wohnung eingeladen.
Ich ging in der Altstadt spazieren. Es war zum ersten Mal Sommer geworden. Das Rheinufer verwirrte mich zutiefst. Eine bunte Ameisenstraße aus Breakdance, Joggern, Kopftüchern, Anglern, Kölschflaschen, Obdachlosen, Partybooten, Nonnen, Japanern, Touristen aus der Provinz. Das Stroh der Zeit … wer oder was war das Stroh der Zeit?
Der Dom stellte sich vor mir quer und stoppte meinen Spaziergang. Ich drückte einen goldenen Türgriff runter, der einen Adels- oder Bischofskopf mit einem Vogelkörper darstellte, aber der Dom war zugesperrt.
Ein Musicalhaus, eine Touristeninformation, die Mündung der Einkaufsstraße und ein Hauptbahnhof waren dem Dom dicht auf die Pelle gerückt. Ich ging über Einkaufsstraßen zurück. Eine Wand war mit Kreide beschriftet. Die Sprüche richteten sich gegen Hartz IV, für stärkere Betriebsräte, für Jesus Christus, gegen den Afghanistankrieg, gegen Jesus Christus, weil der seine Mutter schlecht behandelt habe, was so auch in der Bibel stehe, für den 1. FC Köln. Ich ging
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