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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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heilig-nüchternen Blicke quälten mich, die der Schwestern und die des heiligen Martin. Die Schwestern schienen meine Nervosität zu genießen. Eine begann aus dem Buch Gott. Eine kleine Geschichte des Größten vorzulesen. Es ging in der Episode um eine depressive Frau, die viel arbeitete und Beziehungen zu Männern unterhielt, wie »eine Frau von heute sie eben unterhalte« (an dieser Stelle kicherten einige der Schwestern), bis jene Frau – diese Pointe war nicht anders zu erwarten – via Christus zu einem ausgefüllten Leben fand. Eine zweite Episode handelte mal wieder von einem blöden Journalisten. Jener fragte Mutter Teresa: »Was, glauben Sie, muss sich an der katholischen Kirche ändern?« Teresa antwortete ihm: »Sie. Und ich.« Und dann fragte, hieß es in dem Buch weiter, ein anderer Journalist, ob Teresa es nicht als empörend empfinde, dass die katholische Kirche die Armut predige und selbst so reich sei. Teresa antwortete ihm, sie habe den Eindruck, er sei unglücklich. Sie sehe das an seinen Augen und sie werde für ihn beten. Zwei trugen Rohkostplatten in den Raum.
    Nach dem christlichen Lied durften wir miteinander sprechen. Es gab Kaffee und Gummibärchen. Schwester Rebekka war in den achtziger Jahren Greenpeace-Mitglied. Eigentlich wollte sie Ziegenkäse machen oder Oliven verkaufen, doch in Paris lernte sie 1987 die Communité kennen, die ihr wunderbar spirituell und wenig katholisch erschien, und sie trat bald darauf ein. Sarah-Marie aus Bochum hatte die Gemeinschaft auf dem Weltjugendtag in Köln kennengelernt und war vor einem Jahr beigetreten. Sie war Gymnasiallehrerin und unterrichtete auch jetzt noch vormittags Latein und Mathematik. Schwester Theresia arbeitete als Verkäuferin bei Manufactum. Die Theologin Edith, die Priorin, stammte aus Paderborn, wirkte keck mit ihrem ostwestfälischen Charme und war seit 1994 Ordensschwester, seit ihrem Studienabschluss. Schwester Marielle arbeitete im Blumenladen. Auch Schwester Carol-Elisabeth hatte sich in Paris in die spezielle Liturgie der Gemeinschaft verliebt. Sie betreute hier halbtags Demenzkranke. Und Marie-Gabrielle war Politologin und wollte ihre ganze Studienzeit lang Journalistin werden und hatte auch schon als Journalistin gearbeitet. Sie war diejenige, die am ersten Tag vom Stroh der Zeit und der Geschwätzigkeit der Journalisten gesprochen hatte. Jetzt wusste ich, dass ich gemeint war, aber ebenso, dass sie wusste, wovon sie sprach.
    Auch die Schwestern waren im Durchschnitt ziemlich jung. Wer älter als fünfunddreißig war, wurde normalerweise nicht mehr aufgenommen, denn diesen Leuten fehlte erfahrungsgemäß die Flexibilität, ihr Leben so stark umzustellen. Die Schwestern empörten sich darüber, dass ich als Erstes fragte, was ihnen am meisten fehle: »Fragen Sie doch mal, was wir alles gewonnen haben«, sagten sie.
    »Wir haben hier eigentlich alles, wir haben hier sogar manchmal eine Currywurst«, sagte Schwester Edith.
    »Wir haben wenig, aber fühlen uns sehr reich«, sagte Rebekka. »Und wir verzichten in der Wohnung deshalb auf Bilder, weil wir was Einfaches schöner finden.«
    In Paris, erzählten die Nonnen, habe der Orden schon so viele Schwestern, dass man dort froh gewesen sei, als diese Gruppe nach Köln geschickt werden konnte. Aber auch einige Kölner seien froh, dass die Jerusalem-Schwestern hier seien. »Wie schön, mal eine junge Schwester zu sehen!«, sagten ihnen manche. In Frankreich, dem Heimatland des radikalen Antiklerikalismus, wurden die Schwestern schon öfter auf offener Straße angespuckt, erzählte Marie-Gabrielle, in Köln noch nie.
    Marie-Gabrielles Gesicht schaute rund unter ihrem Kopftuch hervor, sie hatte eine zarte Haut und sah so aus, als sei sie fünfundzwanzig. Ihre Schönheit hatte ich bereits in der Kirche bemerkt. Wenn sie ans Predigerpult trat, sah ihr Gesicht friedlich aus wie die Mondgesichter in Gutenachtbüchern. Ihre Augenbrauen, Augenlider und ihr Mund waren zarte Sicheln. Sie war die Inkarnation der Unschuld. Wenn sie sang, trat ein tiefes Lächeln auf ihren Halbmondmund. Sie war eine bezaubernd schöne Frau. Ob das die Brüder auch so sahen?
    Nachrichten verfolgten die Schwestern nicht regelmäßig, manchmal lasen sie die Lokalzeitung oder Le Croix . Sie sagten, es gebe für sie jetzt Wichtigeres, und das wirklich Wichtige erfahre man sowieso irgendwie. Ihr Platz auf der Welt sei es, für die Entscheidungsträger zu beten, denn sie glaubten, dass das Gebet wirke, sagte

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