Vom Aussteigen und Ankommen
tiefer in die Einkaufsstraße hinein. H&M, Jack Wolfskin, Kentucky Fried Chicken – Monotonie des Spätkapitalismus, die langweilige Internationale des Großkapitals. Die Überschriften in den Zeitungskästen informierten darüber, dass Griechenland für hundertdreißig Milliarden Euro »gerettet« und dass Spargelsaison sei. War auch der Spargel das Stroh unserer Zeit?
Ich ging an römischen Ausgrabungen vorbei, eine Bar zeigte schon wieder Fußball, heute Abend Champions League. Temperamentvolle Jugendliche spielten hinter der Hausecke mit einem Klappmesser, ein Kunstmuseum warb für romantische Landschaftsmalereien, ein Straßenpianist spielte auf einem rollbaren Flügel Robbie Williams, ein CDU-Wahlplakat zeigte Jürgen Rüttgers und seinen Wahlkreiskandidaten Efkan Kara (»Garanten für Stabilität«), der Teppichladen hatte reduziert, drei Teeniemädchen hatten feiste Gesichter, »Tooooor!« für Barcelona. Ich stand wieder vor Groß Sankt Martin und setzte mich auf den Kirchplatz. Wie weltfremd konnte man nach zwei Tagen im Kloster werden? Oben im Haus, in der WG der Brüder, brannte Licht. Sie sprachen darin über ihre Fortschritte und Rückschläge im Glauben. Die Stadt war mir fremd und Gott erst recht. Xenophob und gottlos, eine nervenaufreibende Kombination. Am Abend versuchte ich zu beten. Es funktionierte nicht.
Am nächsten Morgen sangen sie wieder ihre Morgenpsalmen. Heute waren schon zwei Besucher im Gottesdienst. Die Christianisierung Kölns schritt voran. Mit welcher Freude diese vierzehn Menschen für zwei sangen, jeden Morgen, das war ein rührender Anblick in unserem Land von Rechnern, einer Hochkultur der niedrigen Mathematik, die aber vom Rechnen langsam müde wurde.
Groß Sankt Martin stand auf den Fundamenten des alten Roms. Hundert Jahre nach Christus war hier noch ein römisches Bad gewesen, im Keller sind dessen Fundamente zu besichtigen. Dann war es mit Rom untergegangen. Um 1000 gründeten iroschottische Mönche hier dann ein Benediktinerkloster. Am 30. Mai 1942 und am 2. März 1943 sackten der Turm und die Westwand im Bombensturm nieder.
Ich saß im hinteren Teil der Kirche, hörte den Psalmen zu und dachte über die Texte nach und meine Gottlosigkeit. Christen sahen Christus als den Messias Israels, das Ausweglosigkeit kannte, aber Gott immer wieder an seiner Seite hatte. Was wussten wir Bildungsbürgerkinder eigentlich von Ausweglosigkeit?
Die Mönche sangen Psalm fünf: »… denn dein Hass trifft alle, die Böses tun.«
Hass? Von der Kindergärtnerin bis zum Papst sagten immer alle, dass Gott die Liebe war. Wie aber konnte die Liebe hassen? Das waren die Glaubenszeugnisse von Propheten, die Gott vertrauten und an den Menschen verzweifelten, oder von Poeten, die dem Menschen zuliebe leicht multiplizierbares Opium dichteten. Hass erhoffen – heiliger Zorn.
Die Schwestern und Brüder sangen Psalm drei: »Du aber, Herr, bist ein Schild für mich. Viele tausend von Kriegern fürchte ich nicht, wenn sie mich ringsum belagern.«
»Viele tausend von Kriegern fürchte ich nicht«? Im Schützengraben bleibt kein Mensch Agnostiker. Wir hatten keine Vorstellung mehr von Schützengräben, Gott sei Dank – wem sei Dank?
Am Vormittag arbeiteten drei Brüder in der Buchhaltung eines Krankenhauses, Nicolas-Marie machte Haushaltsarbeiten, er war außerdem der Hausmeister in der Kirche. Ich putzte an einem Tag die Fenster und wischte den grünen Boden, an einem anderen erneuerte ich mit Pinzetten die Leuchtdioden, die in einem Kästchen in der Kirche neben dem Eingang zur Sakristei anzeigten, welche Strahler gerade brannten und welche defekt waren. Am dritten Vormittag putzte ich die Küche und half Nicolas-Marie beim Kochen. Das stille Arbeiten tat gut, so wie zu Beginn der Pferdebauwoche. Wohldosiert zu sprechen hatte eine entschlackende Wirkung. Ständiges Reden war oft wohl der Versuch, das innere Schweigen zu verdrängen. Das Leben zubringen wie ein Geschwätz, wortwörtlich. Die Sendepausen hier, wie auch die Empfangspausen, schufen Raum, der nötig war, um Neues zu empfangen.
Der heilige Martin guckt
Die Schwestern hatten mich zum Essen eingeladen. Sie sahen auch aus der Nähe aus wie holzgeschnitzte Heiligenfiguren. Ich war ein wenig nervös. Die Wohnungseinrichtung war ähnlich karg wie die der Brüder, doch im Detail liebevoller. Die Ikone im Esszimmer war mit einem Buchsbaumzweig garniert. Wir saßen am U-förmigen Tisch, vis-à-vis die Ikone des heiligen Martin.
Die
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