Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
an der Stirn. Der ewige Seitenscheitel.
    |40| Die Briefe und Fotos sind lebenswichtig.
    Sie verhindern, daß sich die Bleifolie wieder über alles legt. Seit die Folie an jenem Oktobermorgen vor vier Jahren so überraschend verschwand und der Garten und die Anliegerstraße vor dem Haus in leuchtende Farben getaucht waren, reihten sich die Tage leicht und faßbar aneinander. Dennoch scheint es oft, als seien die Menschen, die Tage und ich noch immer die gleichen.
    Für den Fall, daß jemals ein Fremder diese Aufzeichnungen lesen sollte, muß dieser entscheidende Morgen im Oktober notiert werden. Es wäre mir zwar nicht unbedingt recht, den Augen Fremder ausgesetzt zu sein. Aber spätestens nach dem eigenen Ableben hat man diese Dinge nicht mehr in der Hand, und selbst, wenn es nur die Putzfrau sein sollte, die nach dem Tod hier oben Ordnung schafft und die Aufzeichnungen in der Schublade findet, soll ihr doch eine gewisse protokollarische Vollständigkeit nicht verwehrt bleiben. An jenem Morgen im Oktober sammelten sich Graugänse auf dem frisch gemähten Rasen und zogen dann kreischend über das Haus. Die Gänse flogen nach Süden. Sie flogen dorthin, wo der Postbote von ARS demnächst Urlaub macht. Er hat es sich verdient.
    Es ist nicht einfach, einen Postboten zu überzeugen, ein paar der Briefe nicht zuzustellen. Für ihn war das ein schweres Dienstvergehen.
    Aber die Briefe sind wichtig.
    Wie die Tapes. Die Videobänder. Wie die Fotos und die Mitschnitte, auf denen ARS selber spricht; rauh und unerwartet arrogant.
    An jenem Oktobermorgen, als die Gänse so laut nach Süden zogen, daß ich davon aufwachte, wäre es undenkbar gewesen, eines Tages einen Postboten mit einer vierzehntägigen Reise zu bestechen. Eine Reise, die das Ministerium |41| für Wohnen, Bauen und Verkehr hin und wieder von Investoren geschenkt bekommt, die sich für die Zusage eines Großprojektes in der Region revanchieren wollen. Sie hat dem Postboten von ARS die Entscheidung erleichtert, ein paar der persönlichen Briefe nicht ordnungsgemäß zuzustellen. Jetzt liegt er in der Sonne von Gran Canaria am Strand.
    An jenem Oktobermorgen wachte ich früher als gewöhnlich auf. In der verblassenden Dunkelheit zeichneten sich das Fensterkreuz und der schwere Eichenschrank grau ab, und während sie langsam Kontur gewannen, kehrte auch der letzte Abend in mein Gedächtnis zurück. Hell und lebendig zeigte sich, was der Schlaf zwischenzeitlich gelöscht hatte. Der Buchladen in Potsdam stand vor meinem inneren Auge, in dem ARS im geflochtenen Korbstuhl gesessen hatte, ein Bein übergeschlagen, das Buch, aus dem sie las, auf dem Knie.
    Das morgendliche Grau wurde von diesem Bild überblendet, es tauchte den Schrank und das Fensterkreuz in gleißendes Licht.
    Ich lag da und dachte daran, wie schnell ein Mensch aus großer Entfernung in den engsten, persönlichsten Raum eintreten und dann den Eindruck erwecken kann, er wäre schon immer dort gewesen. Bis gestern hatte ich ARS nicht gekannt. Ich hatte nicht das geringste von ihr gewußt, als ich am Nachmittag durch die Fußgängerzone schlenderte. Ich kannte sie nicht, als ich beim Thailänder verspätet ein billiges Mittagsmenü aß, ich war noch ahnungslos, als ich anschließend ein Softeis zu mir nahm, eines der wenigen, die noch diesen körnigen Biß haben wie früher.
    Ich hatte ihren Namen noch nie gehört, bevor ich vor dem Schaufenster eines Buchladens stehenblieb. Und als ich ihren Namen dann auf dem Plakat las, auf dem ihre |42| Lesung angekündigt wurde, war es nur ein Name, den ich sofort wieder vergessen hätte, wäre mir die Lesung nach einer Weile ziellosen Herumlaufens nicht als eine gute Möglichkeit erschienen, den Abend unter Menschen zu verbringen, ohne von ihnen behelligt zu werden. In letzter Zeit beherrschte mich diese Unruhe, ich suchte Gesellschaft, hielt es dann aber nie lange aus.
    Der Buchladen in der Fußgängerzone ist klein. Über eine Wendeltreppe gelangt man in die obere Etage. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Lesung besucht zu haben. Ich setzte mich auf einen Hocker an der Wand. In der ersten halben Stunde muß ich unkonzentriert gewesen sein. Ich weiß bis heute nicht, was ARS an diesem Abend las. Erst das Gespräch mit dem Buchhändler erregte meine Aufmerksamkeit. Der Buchhändler saß neben ARS, ebenfalls in einem Korbstuhl; ein ehemaliger Bürgerrechtler. Er trug die typische schlampige Kleidung und die wilde Frisur, mit der diese Leute aus unerfindlichen

Weitere Kostenlose Bücher