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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Gründen auch heute noch herumlaufen. Es schien, als wollte er ARS mit seinen Fragen verunsichern. Offenbar dachte er, daß aufgrund seines Alters und seiner Erfahrung ihr Platz eigentlich ihm gebührte.
    Er sagte, er verstehe nicht, wie sie die Siebziger Jahre im Osten so selbstverständlich beschreiben könne, wo sie damals doch erst vier Jahre alt gewesen sei. Er lobte sie so über die Maßen, daß es klang wie Kritik.
    Sie trank einen Schluck Wasser. Sie blieb still. Es schien für einen Moment, als fiele ihr keine Antwort ein, als würde zutreffen, was er angedeutet hatte: Sie war tatsächlich zu jung. Aber dann lächelte sie. Sie stellte das Glas auf den Tisch zurück. Was sie sagte, hat sich mir für immer eingeprägt. Ob er sich immer nur an Dinge erinnere, die tatsächlich passiert seien, sagte sie, ob das nicht ein eintöniges Leben |43| sei. Ob es angesichts der Tatsache, daß ein Land, das ihn viele Jahre geprägt habe, eines Tages verschwinden könne, ohne daß er mit verschwunden sei, nicht ein Trugschluß wäre, anzunehmen, solche Prägungen würden die Identität eines Menschen tatsächlich so stark beeinflussen, wie alle glaubten. Ob nicht vielmehr das Flüchtige daran deutlich würde. Für sie sei das Verschwinden all der Verhaltensregeln, Glaubenssätze und des für sicher erachteten Wissens geradezu eine Aufforderung, sich zu ändern, vielleicht sogar, sich neu zu erfinden. »Da ist immer soviel von Freiheit und Individualität die Rede«, sagte sie, »aber keiner scheint das ernst zu nehmen. Lassen Sie sich doch mal auf den Gedanken ein, frei zu sein. Sie müssen sich nur dafür entscheiden.« Während sie sprach, sah sie nicht in Richtung des Buchhändlers. Sie sah mich an. Sie sagte: »Hadern Sie denn nicht manchmal mit dem, der Sie sind?«
    Ich hielt ihren Blick zuerst für einen zufälligen Blick ins Publikum, auf niemanden gerichtet. Das war ein Irrtum. Sie sah mich an, als wartete sie auf eine Reaktion. Auf meine Reaktion. Auch als sie geendet hatte, wandte sie ihren Blick nicht ab. Und während ich jemanden ja und noch einmal lauter »Ja!« sagen hörte und feststellte, daß ich das war, entstand das brennende Bedürfnis, alle Fenster zu öffnen. Die Luft in diesem kleinen Leseraum schien nicht mehr auszureichen. Die Lungen verlangten nach Sauerstoff, weiteten sich, der Atem ging heftig, schnell, ich schnappte nach Luft.
    Von einem Moment auf den anderen war ich vollkommen aufgewühlt. ARS hatte an etwas gerührt, etwas, das lange verschwunden gewesen war und jetzt aufgestört wurde. Was sie gesagt hatte, ähnelte dem, was ich früher sehr oft gehört hatte. Das fiel mir in aller Konsequenz erst im nachhinein ein, als ich wieder auf der Straße stand und |44| die Atmung sich beruhigt hatte. Was sie gesagt hatte, ähnelte den Sätzen, die die Frau damals gesagt hatte, Sätze, die die Frau eine Zeitlang ständig wiederholt hatte, erst gut gelaunt, beinahe spöttisch, später nur noch mechanisch.
Warum bist du so ein alter Sturkopp! Festgefahren und provinziell. Dabei bist du doch gar nicht so zufrieden, wie du immer tust!
    Jetzt, hinter ARS Worten, war dasselbe wieder zu hören. Beides überlagerte sich. Das eine klang wie ein Echo des anderen, und obwohl ARS nicht dieselben Worte benutzte und wahrscheinlich nicht dasselbe meinte, wurde das, was damals opportunistisch, untreu, sogar wie ein Verrat geklungen hatte, zu einer selbstverständlichen, ja notwendigen Sache.
    ARS sah noch immer nicht weg.
    Sie sah mich an, und diesen Blick konnte ich nur als persönlich gemeinte Aufforderung verstehen. Ich wollte die Fenster öffnen. Es kam mir vor, als brauchte ich Raum, als wäre seit Jahren eine Verkrampfung dagewesen, die mich zusammengeschnürt hatte und sich jetzt löste. Ich nahm ARS Worte mit jeder Faser, mit jedem Nerv auf. Spürbar wich die Last der letzten Jahre, und würde es nicht so dramatisch klingen, müßte man sagen: Ich fühlte mich frei von mir.
    Dem Buchhändler war anzumerken, daß ihn ARS Rede völlig kalt ließ. Er unterbrach sie grob. Er wollte, daß die Leute Bücher kauften, nicht, daß sie ihr Leben in Frage stellten. Mir aber gelang es, ihren Blick einzufangen und ihr zu signalisieren, daß hier ein Verbündeter saß, einer, der glühend mit ihr einverstanden war. Sie nickte mir dankbar zu. Die Freude in ihrem Blick war nicht zu übersehen.
    Nach der Lesung wollte ich ein paar Worte mit ihr wechseln, es schien selbstverständlich, als hätten wir das schon |45| immer so

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