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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ergriffen werden.
    Heute sind viereinhalb Kilobyte entstanden. Zu wenig. Sobald ich die Datei »Vom Dorf« öffne und die stümperhaften Sätze anstarre, aus denen einfach keine Geschichte werden will, treibt es mir den Schweiß auf Nacken und Stirn. Bald ist das Unterhemd durchgeschwitzt, die Feuchtigkeit juckt im Rücken. Später zeigen sich auch Flecken im Hemd.
    Aber angesichts all dessen, was bereits aufs Spiel gesetzt wurde, wäre es lächerlich, sich über Kleinigkeiten wie Schweißflecken zu beklagen, über das Schwitzen und Jucken, über diesen Preis, den man zu zahlen hat, wenn der Kopf nicht funktioniert.
    Nur manchmal wird es unerträglich. Dann können nicht einmal ARS Bücher und die Briefe weiterhelfen. Egal, wie genau man sie durchsieht. Wort für Wort. Manchmal habe ich zehnmal denselben Satz gelesen, bis er in einen einzigen langen Strich zusammenlief. Ich habe mir eine Liste mit Adjektiven und Verben gemacht, die bei ARS häufig vorkommen. Ebenso ein Liste mit Worten, die sie nie benutzt. |38| Sie sagt lieber »gucken« als »sehen«. Sie sagt »hinreißend«, aber nur in privaten Briefen. Die Listen sind alphabetisch geordnet, sie beginnen mit den Adjektiven. So fällt das Suchen leichter. Es gilt, ARS Wortwahl so genau zu studieren, daß mir ihre Vorlieben, ihre Abneigungen, der sprachliche Aufbau in Fleisch und Blut übergehen. Klang und Rhythmus der Sätze müssen vertraut werden, gewohnt, unbewußt wie die eigene Atmung. Nur so können sie schließlich glaubhaft zurückfließen auf das Papier. Nur so kann das Vorhaben gelingen.
    Momentan geht es schleppend voran. Bis Weihnachten sind es noch drei Monate, bis dahin ist es kaum zu schaffen. Dabei wäre es gut, die Geschichten vor den Feiertagen abzuschließen. Es wäre die ideale Situation: ARS würde das Manuskript zu Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum finden. Sie würde neben anderen Geschenken ein unbekanntes Päckchen sehen, innehalten, es zögernd aufnehmen, unschlüssig herumdrehen, es schließlich öffnen. Und dann, was würde sie finden? Sich. Sie würde sich selbst begegnen. Das dürfte einen Schock auslösen; einem Wunder nicht unähnlich.
    Ihre Gestik, ihre Mimik, ihr Lächeln. Wieder und wieder laufen die Videos durch. Es ist wichtig, auch die Körpersprache näher zu untersuchen. Gestik, Mimik und Lächeln sind Ausdruck derselben inneren Quelle, aus der sich ihre Texte speisen. Will man die Texte bis ins Innere verstehen, dürfen persönliche Eigenarten der Autorin nicht außer acht gelassen werden. Jedes Detail hilft weiter. Nur so besteht überhaupt eine Chance, Geschichten zu erfinden, die bei ARS den Eindruck erwecken, sie selbst hätte sie geschrieben.
    Unter dem Weihnachtsbaum, das fremde Manuskript in der Hand, würde sie anfangen zu schwitzen. Sie würde |39| schwitzen wie ich, während ich hier oben sitze und mich quäle. Sie würde Schweißtropfen ihren Rücken hinunterrinnen spüren und etwas zu heftig nach ihrem Sektglas greifen. Die Hand zittert, ich sehe es deutlich vor mir. Sie würde den Sekt in einem Zug austrinken, und vielleicht würde sie damit die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf sich ziehen und lachen, damit er keinen Verdacht schöpft. Sie würde unauffällig Stirn und Nacken mit ihrem Blusenärmel trocknen, und ebenso unauffällig würde sie das Manuskript zwischen die anderen Geschenke schieben und scheinbar unbekümmert die Stunden bis Mitternacht durchstehen. Insgeheim würde sie fieberhaft überlegen. Sie würde die letzten Tage, die letzten Wochen auf ein Zeichen hin durchgehen, das ihr die Existenz dieser Texte erklären könnte. Sie würde alle Situationen, in denen es ums Schreiben ging, auf Hinweise durchforsten.
    Sie würde noch weiter gehen. Sie würde versuchen, sich daran zu erinnern, die Geschichten selbst geschrieben zu haben, womit sie an die Grenzen ihres Denkvermögens stoßen und fürchten würde, irre zu werden. Bis Mitternacht würde sie jedenfalls keine Erklärung finden.
    Es gilt, sich ihren Schreibstil ganz zu eigen zu machen.
    Das ist eine Frage der Hartnäckigkeit.
    Eine Frage der Geduld.
    Ein Fenster ist offen.
    Draußen die Nacht. Ihr Gesicht. Dieses ins Helle lächelnde Gesicht. Ihre Augen. Wenn einen ihre Augen ansehen, braucht man eine Weile, um sich zu erinnern, daß außerhalb der Augen noch eine Welt existiert.
    Es ist wichtig, sich auch vor dem Schlafengehen ARS noch einmal präzise vorzustellen. Sie sich so vorzustellen, daß der Traum Zugang zu ihr hat.
    Die Narbe links

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