Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Wort: Ich würde ihr folgen. Die Briefe, die ich ihr daraufhin zu schreiben begann, veränderten mich. Schon da ging ich sehr auf sie ein. Das Vorhaben, Geschichten in ihrem Stil zu verfassen, verlangt nun ein noch feineres Studium ihrer Person. Eines, das ihre tieferen Schichten freilegt und mich ihr vollkommen anverwandeln wird.
Sie sei eine ›Fremde des menschlichen Herzens‹, hatte sie an diesem ersten Abend gesagt. Es klang kokett, trotzdem war ich sicher, sie wußte, was sie da sagte. Es fuhr mir ins Mark. Wenn sie nur auch wüßte, daß man selbst so ein Fremder ist –
Wenn sie das wüßte, hätte sie nicht so lange geschwiegen. Vier Jahre, in denen jeder Versuch, ihr die Verbundenheit nahezubringen, gescheitert ist. All die Briefe, die Anschreiben an ihre Internetseite, die Postkarten, die unbeantwortet geblieben sind. All die Einladungen, all die Blumen. Selbst Karten für die Staatsoper hat sie verschmäht.
Der letzte Brief an ARS,
geschrieben am 23. 09. 2005
»Liebe Antje, das vertraulichere
du
scheint mir mittlerweile angemessen, ich glaube, jetzt
du
sagen zu dürfen, da wir uns doch in gewisser Weise nähergekommen sind (ich beziehe |51| mich auf die vielen Briefe, die hoffentlich auch ordnungsgemäß ankamen und von meiner Seite aus immer ehrlich und offen gemeint waren). Da ich der Ältere bin, verlasse ich mich darauf, daß du mir das nicht übelnimmst.
Ich hatte das Glück, dich neulich wieder auf einer Lesung zu sehen. Ich saß ganz hinten. Du wirst mich nicht erkannt haben, wie solltest du auch, ich habe dir zwar ein Foto geschickt (du erinnerst dich doch: Ich stehe mit blauem Leinenhemd vor dem Büro im Bau- und Verkehrsministerium, auf dem Bild habe ich einen kleinen Backenbart, der ist jetzt abrasiert), aber wie hättest du mich in der Menge ausmachen sollen?
Da du meinen Briefen gegenüber bisher so zurückhaltend gewesen bist, nehme ich an, ich habe dir noch kein Thema bieten können, das interessant genug ist, um mir deine Gedanken dazu zu schreiben. Ich würde auch nicht jedem wildfremden Menschen Tür und Tor öffnen!
Aber wieder kann ich dich nur an unsere erste Begegnung erinnern, bei der ein Einverständnis zwischen uns so deutlich geworden ist. In uns beiden sehe ich dieselbe Zurückhaltung und Distanz dem Leben gegenüber, die ich aber als unterdrückte Kraft, als eine innere Quelle beschreiben würde, die um so heftiger sprudelt, je sorgsamer man sie vor dem Alltag, vor der Wirklichkeit und vor den meisten Menschen verbirgt.
Über Menschen habe ich einiges gelernt. Du mußt wissen, daß ich nicht immer in diesem Ministerium angestellt war. Das ist keine freie Wahl, sondern eher eine Notlösung für die Zeit, die noch bleibt bis zur Rente. In sechs Jahren ist das vorbei. Bis dahin verbringe ich die Tage tatenlos in einem nüchternen Büro, während draußen eine Baustelle lärmt, aber das fällt in so einem Ministerium, und das sage ich dir jetzt im Vertrauen, nicht schwer. Es gibt so viele |52| junge, aufstrebende Leute hier, daß von mir gar nichts anderes erwartet wird. Man käme sich nur in die Quere. Natürlich sind es sechs Jahre Lebenszeit, die auf diese Weise ungelebt verstreichen, jeder einzelne Tag für sich, den ich nur darauf warte, daß das Wochenende beginnt. Ich versuche, dieses sinnlose Warten durch Freizeitunternehmungen auszugleichen, aber meistens bin ich abends sehr erschöpft, und es reicht gerade noch, um dir einen Brief zu schreiben.
Viele derjenigen, die ich von früher kenne und die mit mir aus den unterschiedlichsten Berufen, für die es heute keine Verwendung mehr gibt, hierher gewechselt sind, haben eine ähnliche Einstellung. Sie warten. Sie bleiben im Hintergrund. Sie alle teilen dieses Gefühl, am Rand zu stehen. Das hält immerhin die alte Kollegialität aufrecht. Man trifft sich auf den Fluren, man steht in den Pausen in den Kaffeeküchen zusammen, man schenkt sich kleine Blumentöpfe zum Geburtstag und zu Ostern Schokoladehasen und kennt voneinander die familiäre Situation. Das gibt einen Halt, den keiner von den Jungen hier jemals kennenlernen wird. Dafür sterben sie früh. Da bin ich sicher. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, so einzeln vor sich hin zu streben. Der Mensch braucht ein Gegenüber. Er muß sich wiedererkennen in einem anderen. Und wie erkennt man sich in einem anderen besser als über eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Gefühl oder eine Idee, an der alle teilhaben? Das muß eine Frage nach deinem
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