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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich so tue, als würde ich schreiben, oder ob ich so tue, als wäre ich sie.
    Da es sich um Weihnachtsgeschichten handelt, ist anzunehmen, daß ich so tue, als wäre ich sie. Mir wäre es nicht im Traum eingefallen, ausgerechnet Weihnachten zum Thema der Geschichten zu machen. Nie und nimmer! Seit die Frau weg ist, bedeutet Weihnachten nichts weiter als drei, vier Tage hier oben zu sitzen und mit den Gedanken genau an der Stelle zu verharren, an der sich immerzu abzeichnet, daß alles umsonst war. Umsonst, aber nicht schmerzfrei. Darüber zu schreiben hieße, die schmerzende Stelle mit Absicht zu reizen. Niemand würde das freiwillig tun.
    Aber mit den Weihnachtsgeschichten läßt sich die größtmögliche Wirkung erzielen. Alles andere hat in diesem Stadium der Bemühungen keinen Sinn mehr. Geschichten zum Thema Weihnachten rühren an ein Familiengeheimnis, von dem niemand sonst weiß.
    |56| Oder beinahe niemand.
    Auf einer Lesung in einer ehemaligen Fabrikhalle, die man jetzt zu einer Kulturstätte aufgemotzt hat, lernte ich die Ex-Freundin von ARS Bruder kennen. Sie vertraute mir kichernd an, daß ARS ihrem Bruder jedes Jahr zu Weihnachten eine neue Geschichte schreibt. Sie war betrunken. Sie sagte: »Ist das nicht
niedlich
!« und mußte sich zusammenreißen, um nicht vom Barhocker zu fallen. »Da macht sie ein
Riesen
geheimnis drum. Außer ihrer Familie weiß das niemand, nur ich! Na ja«, sagte sie. »Und jetzt du. Und wer bist du?«
    Dicht, wie sie war, stimmte sie bedenkenlos zu, ARS nach der Lesung ins Hotel zu folgen, sie in der Lobby aufzuhalten und mich ihr als ihren neuen Freund vorzustellen. Ich wollte herausfinden, ob ARS mich wiedererkannte. Der Ex-Freundin gefiel das wahrscheinlich, weil sie ARS Bruder damit eines auswischen konnte. Gemeinsam wollten wir ARS an die Bar einladen. Aber im Hotel hatte ARS plötzlich allen Anstand verloren. Sie schob mich beseite und murmelte, ohne aufzusehen (weshalb nicht festzustellen war, ob sie mich erkannt hatte), sie sei müde, und überhaupt sei sie es leid, von Besoffenen angequatscht zu werden. Dann schloß sich die Fahrstuhltür. Die Ex-Freundin trommelte mit den Fäusten dagegen, bis der Nachtportier kam; die Kränkung mußte durch den Alkoholgehalt im Blut für sie noch intensiver sein. Jedenfalls war es leicht, von ihr daraufhin ARS Adresse und Telefonnummer zu erfahren.
    Als ich allein nach Hause fuhr, roch das Auto nach Schnaps, aber am nächsten Morgen auf dem Weg zu ARS Wohnung war der Geruch bereits verflogen.
    Seit jenem Oktobertag, als ich morgens vom Geschrei der Gänse aufwachte und eine Art Rausch meine Sehnen |57| und Muskeln löste, ist kein Zeichen von ARS gekommen. Ich warte jeden Tag. Es hat darunter auch Tage gegeben, an denen mich dieses Warten zermürbte, an denen die Farben verblaßten und ich schon am Morgen die Nacht herbeisehnte, in deren Dunkelheit, wie ich hoffte, die Gedanken weniger hartnäckig wären und ich mir selbst weniger spürbar. Aber das sind Ausnahmen. Gewöhnlich stehe ich morgens gegen sechs Uhr auf, bereite zwei Toastscheiben zu und trinke eine Tasse heißen Kakao. Während die Toastscheiben goldbraun werden, höre ich den Nachbarn ins Bad gehen. Ich höre die Spülung der Toilette und die Dusche, und dann zögere ich noch einen kurzen Moment, bevor ich mir zum ersten Mal an diesem Tag die Vorstellung erlaube, ARS wohne nebenan. Die Geräusche verändern jedesmal sofort ihren Klang.
    Sie bekommen eine Leichtigkeit, die mich mit Schwung in den Tag entläßt. Manchmal nehme ich auch eine Tasse, stülpe sie an die Wand und lege mein Ohr dagegen. Es kann Vorteile haben, allein zu wohnen. Ich kann mir in aller Ruhe ihre Bewegungen, ihr Lachen, ihre Art zu reden ins Gedächtnis rufen.
    Wieder ist eine Nacht verstrichen, ohne daß eine einzige Zeile entstanden ist. Maler können wenigstens abpausen vom Original. Eine derart leichte Vorgehensweise gibt es hier nicht. Hier muß versucht werden, sich in ARS Denken zu denken.
    Wenn sie nur auch ohne diese Mühe begreifen würde, was uns verbindet!

|58| Protokoll 2
    Ich habe mich heute morgen dabei erwischt, wie ich in der Erinnerung die Frau durch ARS ersetzte.
    Ich stand wie so oft mit der Tasse an der Wand und lauschte auf die Geräusche. Sie sind mittlerweile vertraut. Ich hatte mich so darauf konzentriert, hinter den Geräuschen ARS zu hören, daß sie wie selbstverständlich Bilder meines früheren Lebens füllte.
    Ich sah, wie ARS sich

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