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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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zugefroren. Die Frösche, die bis vor kurzem noch jede Nacht gelärmt haben, sind still und liegen verborgen und starr im braunen, ebenfalls starren Schilf.
    Ich schrieb ARS, daß es in jedem Leben einen Menschen gebe, der uns in dem Moment begegne, in dem wir ihn nötig haben. Er komme ungerufen, wie eine Art Engel. Ehe er |61| da sei, hätten wir keine Ahnung, daß es ihn gebe. Wir wissen nicht das geringste von seiner Existenz. Käme er jedoch nicht, gingen wir verloren. Ich schrieb, daß die Rolle des Engels in meinem Leben glücklicherweise jetzt besetzt sei. Ich schrieb jedoch nicht von wem und ließ das Ganze wie einen beiläufigen Scherz klingen, um sie nicht zu überfordern.
    Seit kurzem ist die Regenrinne wieder leck. Soll es tropfen! Es kommt mir sinnlos vor, irgend etwas zu reparieren, solange sie nicht geantwortet hat.
    Mit den Geschichten scheint es am ehesten voranzugehen, wenn ich mich an Eckdaten orientiere, an dem, was ich von ARS weiß:
    Sie hat einen Bruder. Sie lebt allein. Sie trägt Hemden, die ihr zu groß sind, so daß sie die Manschetten umschlagen muß und sie ihr wie Flügel über den Handrücken schweben. Bei einem Interview auf der Buchmesse verdeckte sie einmal verstohlen mit dem Ärmel ihre linke Hand. Ich saß vorn und sah, daß ihr Mittelfinger blutete. Sie hatte sich das Nagelbett aufgekratzt. Auch ihr scheint nicht immer alles so leicht von der Hand zu gehen. Ihre Ruhe jedenfalls scheint nur um den Preis verletzter Nagelbetten zu haben zu sein. Ich habe ihr ein Paar dünne, schwarze Handschuhe geschickt.
    Ich weiß alles, was man aus ihren Büchern, ihren Artikeln, aus den Rezensionen, Porträts und von Lesungen überhaupt wissen kann. Ich kenne das Allerweltsgesicht. Die öffentliche Person.
    Privat kenne ich sie noch nicht gut genug. Das Gespräch beim Gemüsehändler in ihrer Straße hat sie abgebrochen, kaum daß ich sie darin verwickelt hatte. Die leerstehende Wohnung im Erdgeschoß ihres Hauses kann ich nicht mieten, weil sie in einer der häßlichsten Gegenden Berlins |62| wohnt, umgeben von Sexshops, Dönerbuden und Läden, in denen ausländische Männer die Zeit mit Sportwetten totschlagen. Neulich hing ein Zettel an ihrer Haustür, auf dem ein Mann gesucht wurde, der einen Ladenbesitzer erstochen hatte. In ihrem Hof dealen türkische Jungs.
    Dank des Postboten bin ich im Besitz der Briefe. Aus ihnen geht hervor, daß sie nicht allein lebt. Jedenfalls ist öfter von einer Berenice die Rede. Berenice scheint die Hemden mit den breiten Manschetten für sie auszuwählen.
    In den Briefen wird auch klar, daß ARS kein Handy besitzt. Das ist nicht nur altmodisch oder kokett. Das ist vor allem besorgniserregend. Was ist denn, wenn ihr etwas passiert? Sie wird oft spät von Veranstaltungen nach Hause kommen. Wie soll sie Hilfe rufen? Früher war das etwas anderes. Aber bei all den Möglichkeiten, die es heute gibt, ist das unverantwortlich. Sie geht aus dem Haus und ist dann einfach nicht mehr zu erreichen!
    Die Vorstellung, sie nicht erreichen zu können, macht mich unruhig. Ich muß dafür unbedingt eine Regelung finden.
    Aus den Briefen weiß ich, daß sie gern eine beste Freundin hätte. Aber sie hat das Vertrauen in Freundschaften verloren. Sie ereifert sich da sehr an einer Stelle. Sie bezeichnet den Empfänger des Briefes, offensichtlich ein Radiomoderator, als hirnlos und menschenverachtend. Er scheint ihr unterstellt zu haben, daß ihr Vertrauensverlust auf einer persönlichen Enttäuschung beruht. Für sie aber hat es mit einem Gesetz zu tun, sie nennt es das Egoismus-Prinzip, das auf Kosten von Freundschaften die Kontrolle über jeden einzelnen in der Gesellschaft regelt.
    Es wird leider nicht ganz klar, was sie damit meint.– Aber es ist ein Anhaltspunkt.
    Von der Ex-Freundin ihres Bruders habe ich noch etwas |63| erfahren, was angesichts der rührseligen Einstellung, die sich darin ausdrückt, sicher niemand wissen soll. ARS schlägt zu Heiligabend immer dasselbe Weihnachtsgedicht von Joseph von Eichendorff auf:
    Markt und Straßen stehn verlassen   / still erleuchtet jedes Haus   / sinnend geh ich durch die Gassen   / alles sieht so festlich aus./ In den Fenstern haben Frauen   / buntes Spielzeug fromm geschmückt   / tausend Kindlein stehn und schauen   / sind so wunderstill beglückt.
     
    Der Eichendorff-Band, antiquarisch erstanden, hat seinen Platz jetzt neben den anderen Utensilien auf dem Beistelltisch gefunden: ein schmales Klingelschild mit ihrem

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