Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
handschriftlichen Namenszug. Rezensionen, Porträts und andere Artikel in einem grünen Schnellhefter. Ihre Lieblingskaugummis, Marke »Orbit«. Ein Ring, den sie auf einer Lesung verloren hat. Ich hatte nicht vor, ihr diesen Ring zu stehlen. Beim Lesen spielte sie damit, und als er hinunterfiel, wollte sie sich keine Blöße geben. Sie bückte sich nicht, und der Ring war vor meine Füße gerollt. Ich hob ihn auf. Nach der Lesung wartete ich, bis sich die Schlange zum Signieren auflöste. ARS trug einen Kaschmirschal und einen hautengen schwarzen Rock. Das letzte Mal hatte ich sie noch in ihrer offenen Wohnungstür in Badelatschen gesehen. Das war an einem späten Vormittag gewesen, und sie war gerade erst aufgestanden. Verschlafen, wie sie war, hatte sie mich nicht erkannt. Sie schüttelte den Kopf und machte die Wohnungstür wieder zu. Vielleicht nahm sie an, ich wollte ihr etwas verkaufen oder hätte mich in der Tür geirrt. Trotz mehrfachen Klingelns öffnete sie nicht mehr.
Jetzt machte ich ihr ein Kompliment zu ihrem Rock, dankte ihr für die Lesung und wollte gerade meine Hoffnung |64| ausdrücken, beim nächsten Mal vor ihrer Tür mehr Glück zu haben und vielleicht auf einen Kaffee eingelassen zu werden, als ich grob herumgerissen wurde. Jemand drehte mir den Arm auf den Rücken, und dann fand ich mich auf der Straße wieder, ein Ast schlug mir ins Gesicht. Unklar ist, was genau passierte; einer von diesen Sicherheitsleuten mit Walkie-Talkies und Ballonmuskeln mußte etwas verwechselt haben.
Nur das abrupte Ende unseres Gesprächs jedenfalls kann erklären, warum ich ihr den Ring nicht zurückgab.
Die letzte Strophe des Eichendorff-Gedichts hängt als Kopie an der Pinnwand neben meinem Schreibtisch. Sollte Besuch kommen, werde ich sie rechtzeitig entfernen. Aber momentan versuche ich, mich in die Empfindsamkeit, die aus diesen Zeilen spricht, einzufühlen.
Und ich wandre aus den Mauern / bis hinaus ins freie Feld / hehres Glänzen, heilges Schauern! / wie so weit und still die Welt! / Sterne hoch die Kreise schlingen / aus des Schnee’s Einsamkeit / steigts wie wunderbares Singen – / O du gnadenreiche Zeit.
|65| Falsche Töne
Zu Weihnachten fängt alles wieder neu an, sagen viele. Dabei denken sie an die Geburt Jesu und sind hoffnungsfroh wie die Hirten auf dem Feld.
»Dit is doch ooch nur Mache«, findet meine Freundin, die nicht auf Weihnachten steht, nur auf Geschenke, aber bei Geschenken, findet sie, wäre das in Ordnung, ein Geschenk, sagt sie, ist ja auch so etwas wie ein neuer Anfang. Sie ist merkwürdig, was Geschenke angeht. Letztes Jahr hat sie mir zwei Döschen peruanischen Honig geschenkt und sich über dieses »Novwum«, wie sie sagte, nicht mehr eingekriegt, obwohl der Honig am Ende wahrscheinlich in Hannover geschleudert und in Lizenz produziert worden ist.
Mir macht sie es einfach. Ich kann ihr jedes Jahr das gleiche schenken, weil sie sich jedes Jahr so darüber freut, daß ich gar nicht anders kann, als es ihr im nächsten Jahr erneut zu schenken. Sonst würde ich ihr die Freude verderben, die ja zum großen Teil eine Vorfreude ist, obwohl sie jedesmal so tut, als wüßte sie nicht, was drin ist im Päckchen.
Als ich am ersten Advent versuchte, sie auf ihrem neuen Handy zu erreichen, ging sie nicht ran.
|66| Statt mit meiner Freundin vom Dorf wie verabredet über den Weihnachtsmarkt zu ziehen, traf ich Sonja. Sonja hat schöne blaue Augen, hohe Wangenknochen, und ich fand, ich hatte eine gute Bekanntschaft gemacht. Sonja nahm mich um die Schultern und sagte: »Na, was ist. Zu mir oder zu dir oder erst noch ’n Tee?«
»Noch ’n Tee«, sagte ich.
»Wie du willst.«
Aber das ist schon das Ende der Geschichte.
Zuvor waren zwanzig Putzfrauen durch meine Wohnung gelaufen. Mein Job bestand zur Zeit darin, Putzfrauen für unsere Filialen im Umland anzuheuern, und das Besondere war, daß ich sie bei mir zu Hause empfing, aus personaltechnischen Überlegungen, wie mein Chef sagte. »Muß Sie nicht weiter interessieren, Frau Tieler, machen Se’s nur so, daß die sich richtig heimisch fühlen beim Einstellungsgespräch, so mit Kerzchen und allem, und Sie werden sehen, wie sich sofort die Spreu vom Weizen trennt.« Ich hatte keine große Lust, meine Wohnung in ein weihnachtliches Himmelreich für potentielle Putzfrauen zu verwandeln, bloß weil meinen Chef eine vorweihnachtliche Sanfmut dahingerafft hatte. Er war fast nicht wiederzuerkennen. Er benutzte
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