Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Minuten.«
»Wieviel sind zehn Minuten?« rief ich zurück. »Bei dir?«
In diesem Moment tauchte mein Chef aus dem Nebel auf und wies mir mit knappen Worten die Tür. Ich war nicht entsetzt. Befand ich mich wirklich auf der Negativseite, war davon auszugehen, daß jede Handlung im Grunde ihr Gegenteil war.
Ich hing dieser Erkenntnis noch nach, als uns aus dem Dunkel plötzlich zwei riesige Scheinwerfer entgegenknallten. Sie gehörten einem Lastzug, der auf uns zu gedonnert kam.
»Paß uff, du Heini!« schrie meine Freundin. Dann strahlte sie, von den Scheinwerfern getroffen, plötzlich auf. Ich konnte ihre Gestalt neben mir auf dem Autositz sehen, klar und deutlich und ein bißchen schöner, als sie es bei unserer letzten Begegnung gewesen war. Ich erkannte meine Freundin vom Dorf, mit ihrem Gesicht unter silbrig glänzenden Haaren, die hohe Stirn, die an einer Seite ein wenig gedellt war, eine Person, die den Trabi und mein Leben lenkte. Sofort vergaß ich, was ich soeben gedacht hatte.
Mit einem Anflug von großer Eleganz saß sie neben mir auf dem Sitz. Ein Tüllröckchen umspielte ihre Taille, umgab sie wie eine Korona aus Licht, die Spitzen vibrierten im Takt der abgefahrenen Pneuma-Räder, und ich dachte daran, daß Weihnachten war. An ihrer Hüfte erkannte ich |92| einen kleinen Riß. Dort spratzte die Naht auseinander, verarbeitet in Billiglohnländern, 50 Prozent Viskose, auch das vergaß ich sofort.
Denn sie lächelte mir zu, zog mein Kinn sanft zu sich heran, wobei ein Glacé-Handschuh, wie ich ihn noch nie an ihr gesehen hatte, ihr Handgelenk umspielte.
»Na weeßte denn nich«, raunte sie, »daß wa se schon längst haben, die Auferstehung? Is da denn nüscht uffjefallen? Die Steine«, flüsterte sie mir zu, und ihr Atem strich über meine Wange, wie Seide oder Engelshaar, »die Steine vonne Grenze sind doch alle weg! Und bis heute kapiert keena, wie it jemacht wurde.«
Sie sagte noch viel mehr, sie redete immer noch weiter, und im Glanz dieser Scheinwerfer erschien mir das alles wahrer, als es je gewesen war.
Zweifler könnten vermuten, ich wäre am Ende an meinem Schreibtisch aufgewacht, aber ich saß nicht am Schreibtisch. Ich saß in diesem Trabant, neben meiner lichtdurchwirkten Freundin, und der Trabant fuhr immer weiter. Abgelenkt von der Straße, nachdem der LKW uns beiseite gefegt hatte, jagten wir an Feldrändern entlang, durch schmale, sandige Furchen, an Plätzen vorüber, auf denen Erntereste vermoderten, später über einen Waldweg, an aufgetürmten Holzstapeln und Tierfutterstellen vorbei, durch bizarre Schatten, die sich bilden, wenn die Wolken zu schnell am Himmel ziehen. Wir jagten einer Landschaft entgegen, von der ich wußte, daß meine Freundin dort noch besser zu erkennen wäre.
Sehr kurz nur dachte ich daran, daß es genau das war, was mein Chef wollte. Aber es würde ihn nie erreichen. Er lebte in einer nebligen Welt.
|93| Protokoll 4
Ich habe mich heute geprüft. Ich habe herauszufinden versucht, ob meine Faszination von ARS vielleicht doch auch eine körperliche ist. Gott sei Dank ist sie das nicht. Es war schon unangenehm genug. Ich habe mir ARS in erotischen Positionen vorgestellt. Ich habe versucht, mir vorzustellen, daß wir miteinander ein Abenteuer erleben. Ich habe mir ihr Gesicht auf den Fotos unter Einwirkung von Lust vorzustellen versucht, hingegeben, verlangend, und meinen Körper auf Zeichen von Erregung hin beobachtet. Ich fürchte, hätte ich auch nur das kleinste Zeichen gefunden, hätte das unser Verhältnis, das einer Geistesverwandtschaft, empfindlich beeinträchtigt.
Seit drei Tagen fällt Schnee.
Er drischt gegen die Dachfenster, er verstopft die Regenrinne, die Schuppentür klemmt. Die Schneefräse wirft ihre Last direkt in die Einfahrt. Wenn ich das Auto starte, leiert der Motor und säuft ab. Ich müßte eine halbe Stunde eher aufstehen, um pünktlich auf Arbeit zu sein. Das wäre nicht das Problem. Schon seit Wochen setzt nach einem heftigen Hochschrecken gegen drei Uhr morgens Schlaflosigkeit ein, die bis sechs, sieben Uhr anhält.
Das Problem ist, daß ich die Geschichten zum Zentrum meiner Tage machen will, und die Arbeit störend dazwischenkommt. Bisher sind nur drei in groben Zügen fertig geworden. Noch scheint alles ein Durcheinander zu sein, der Stil ist miserabel. Ich kann nicht nur so tun, als ob. Das reicht nie und nimmer. Es ist nötig, sich tiefer in ARS Sprache |94| hineinzugraben, sich hineinzuschrauben in ihren Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher