Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
begossen, Kerzen mußten aufgesteckt werden. Aber das war früher.
Jetzt ist jetzt.
Draußen dreht die Polizeistreife ihre Runden. Seit vorgestern klingeln sie täglich. Sie fragen nach Neuigkeiten. Sie wollen wissen, wann die Nachbarn von der Arbeit kommen, ob sich auf der Straße Fremde herumtreiben oder ob es im Ort Auseinandersetzungen gegeben hat. Sie sagen, das entführte Mädchen sei immer noch nicht gefunden worden. Auffällig und ungewöhnlich für sein Alter seien die Zöpfe. Wenn ich irgend etwas erfahren sollte, wären sie mir für Hinweise dankbar.
Ich traue der Geschichte nicht. Ich bin sicher, daß sie nur ein Vorwand ist. Ein Vorwand, um mich zu beobachten. Nachdem ARS Anzeige erstattet hat – und nach dem Zwischenfall vor ihrem Haus gibt es da keine Zweifel mehr – halten sie das offenbar für die klügste Strategie. Sie wollen mir zeigen, daß ich beobachtet werde. Aber was können sie mir schon anhängen? Gestern vormittag habe ich nicht geöffnet, nachmittags war ich im Wald, und von nun an |150| wird überhaupt nicht mehr auf die Türklingel reagiert. Wenn der Nachbar den Schneeschieber borgen will, kann er das genauso gut am Telefon sagen. Ich werde mich nicht mehr rühren, bis die Feiertage vorüber sind!
Trotz allem kann ich ARS den Zwischenfall vor ihrem Haus nicht übelnehmen. Ich kann ihr überhaupt auf die Dauer nur wenig übelnehmen, selbst, wenn wieder die alte Wut hochkommt, die mir sagt, wie lächerlich das wirken muß; ein erwachsener Mann, der vom Gleichklang zweier Seelen träumt und den Traum nicht unter Kontrolle hat.
Im steigenden Morgenlicht wird ARS Gesicht auf den Fotos deutlicher. Es gibt keine freie Stelle mehr an der Wand. Erst gestern fand ich im Internet neue Porträts, die ich so unter die Dachschräge hängen mußte, daß sie andere überlappen.
Ein Foto zeigt ARS mit sonnengebleichtem Haar. Sie trägt Jeans und ein weites Hemd. Das muß während eines Aufenthaltes im Ausland aufgenommen worden sein; neben den Treppenstufen, auf denen sie sitzt, wächst ein Kaktus. Ein besonders undankbares Bild hängt hinten in der Ecke und verfolgt mich oft bis in den Schlaf. Auf diesem Foto ist ihr Gesicht gedunsen, ihre Augen liegen trüb zwischen weichen, aufgeblähten Lidern. Jemand hat ihr einen weißen Schal umgehängt, der sie noch bleicher macht. Entweder war sie in der Nacht zuvor betrunken (weil sie mit irgend jemandem doch ausnahmsweise einen trinken gegangen ist), oder sie hat heftig geweint, und die Fotografin hat sie in stupider Erfüllung ihres Auftrags trotzdem so derangiert aufgenommen. Das verfolgt mich in den Schlaf, weil ich weiß, so wird ARS im Alter aussehen.
Ihr gedunsenes Gesicht hat sich in den Kopf gebrannt, und mit ihm eine Leere, die nur auf eines hindeutet: Wenn ARS alt ist, bin ich längst nicht mehr. An diesem Foto wird |151| deutlich, wie ungenutzt die Zeit verfliegt. Es macht nervös und fahrig.
Whoever speaks to me in the right voice, him or her I shall follow –
Immerhin gibt es jetzt endlich einen Verlag, der Interesse an den Weihnachtstexten hat. Der Nepuzen-Verlag ist ein kleines, bodenständiges Unternehmen. Die beiden Verleger sind auf Heimatliteratur spezialisiert, auf Bücher über Schiffshebewerke und Brandenburger Mühlen, über Prignitzer Scheunen oder die Geschichte des Apfels seit Friedrich II. Ich fühle mich dort gut aufgehoben. Ich weiß, daß es nicht ganz dem Ausgangsgedanken entspricht, ich hatte mir einen Buchstart gewünscht, der mehr wie ein Paukenschlag klingt. Aber wenn es zu Anfang ein Glöckchen sein soll, ist das auch in Ordnung. Schließlich geht es um die Idee. Es geht darum, ARS ein Bekenntnis zu entlocken.
Die Nepuzener sind eine Empfehlung des Maklers. Er hat ihnen vor einigen Jahren ein Haus im Rhinower Bruch vermittelt. Jetzt im Winter ist beinahe der gesamte Weg durch die Heide überfroren. Die Verleger haben Schwierigkeiten, ihre Manuskripte in die Druckerei und die fertigen Bücher in die Buchläden zu fahren. Das machen sie noch alles selber. Als ich ankam, waren gerade die Vier-Uhr-Nachrichten mit Meldungen von steigenden Arbeitslosenzahlen durch, ich merkte mir das, weil ich nach einem Thema für den Gesprächseinstieg suchte. Ich wollte nicht dieselbe Blamage erleben wie in der Agentur in Charlottenburg. Aber die Sorge war unnötig. Die beiden in ihren weiten, karierten Hemden waren mir sofort symphatisch. Ein Mistelzweig hing im Türrahmen, und mit ihren großen, klobigen Händen und den dunkel
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