Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
hatte sie herausgezerrt. Sie steuerte damit den Laden gegenüber an.
Ich blieb nicht länger.
Ich nutzte die Unterbrechung im Verkehr, um abzufahren.
Warum?
Um nochmal anzufangen vielleicht. Um nochmal loslegen zu können. Frisch und unbeleckt wie damals.
Nochmal hinüberzugehen über eine Grenze. Diesmal vielleicht in eine andere Richtung.
Sich neu orientieren. Umsatteln. Wie der Makler, der auch etwas ganz anderes studiert hat.
Noch mal alles von vorn. Aber wo ist vorn, wenn alles im Kopf schon nach hinten ausgerichtet ist.
Es wäre schön, ihr das schreiben zu können. Es wäre schön zu wissen, daß sie es hört. Das fehlt. Es fehlt besonders |147| dann, wenn niemand redet. Wenn man stumm dasitzt und die Tauben gegenüber dumpf in ihrem Verschlag hocken.
In der Literatur-Agentur in Charlottenburg, die ARS vertritt, lag mir der Zwischenfall noch so auf dem Magen, daß ein völlig falscher Eindruck entstand. Die Damen, die dort arbeiten, sahen sich das Manuskript gar nicht erst an. Sie fertigten mich im Vorzimmer ab.
»Mein Lieber, das ist großartig! Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht. Halten Sie alles so bei. Und grüßen Sie sie. Sagen Sie ihr, es war ein gelungener Scherz. Wir haben gelacht. Und danken Sie ihr für die Weihnachtswünsche, sie hat uns eine so reizende Karte geschrieben! Da werden wir sicher auch die nächsten zehn Jahre unbeschadet überstehen, vor allem, wenn man uns solche Komiker wie Sie vorbeischickt! Also machen Sie’s gut. Und passen Sie auf, da ist eine Stufe.«
Es ist nicht gut, sich die Absagen so zu Herzen nehmen.
Es ist nicht gut.
Protokoll 8
Die Zeit vor den Feiertagen ist wieder mit dem gleichen Schmerz erfüllt.
Die Luft morgens ist schneidend klar. Alles ist erbarmungslos deutlich. Der Schwippbogen auf dem Garagendach, ein Adventsstern im Fenster des Nachbarn, der Rauch aus den Schornsteinen der Gipsfabrik, die kahlen Pappeln; Landschaftsgerippe, von denen die Haut gefallen ist.
|148| Wenn es gelingt, mit Hilfe der Geräusche hinter der Wand die Frau durch ARS zu ersetzen, wenigstens minutenlang, kann ich solche Unternehmungen machen, wie sie zu Weihnachten üblich sind. Die Leute in der Straße kehren bepackt von Einkäufen zurück. Der Nachbar hat Zweige von seiner Kiefer geschnitten, sein Neffe ist zu Besuch. Im Falkenhagener Forst hat die Gemeinde auf einer Lichtung Gulaschkanonen und Stände mit Glühwein und Stollen aufgestellt. Der Förster hat ein Waldstück zum Fällen freigegeben, dort können sich die Leute ihre Weihnachtsbäume holen. Gestern bin ich selbst hinausgefahren, um einen zu schlagen. Er ist schlank und gerade gewachsen, und nur die oberen Äste müssen gestutzt werden, damit er ins Wohnzimmer paßt. Ich habe ihn erstmal auf die Terrasse gestellt, Kleidung und Haut riechen vertraut nach Harz.
Im Wald, als ich mich von den Stimmen der anderen entfernte und durch die Stille ging, die bald nur noch vom Krachen der Schritte auf der verharschten Schneedecke unterbrochen wurde, ging mir das Wort
traumverloren
durch den Kopf. Ich merkte, wie sich mein Körper einem zweiten zuwandte, wie ich in Gedanken neben ARS herlief, wie sich mein inneres Gespräch an sie richtete und wie mein Blick von ihr gelenkt war.
Gemeinsam blieben wir an den von Tieren freigelegten Stellen im Waldboden stehen, um herauszufinden, in welche Richtung sie geflüchtet waren. Gemeinsam wichen wir eisüberzogenen Pfützen aus. Ich hätte immer weiter so gehen können. Längst war die Suche nach einem Baum vergessen. Ich war mit ihr in diesem weißen Feld vollkommen aufgehoben, ein Gefühl der Ganzheit strahlte auf die Landschaft ab, so daß die Tierspuren, die Baumkronen und der harte Schnee zu Zeichen eines ungekannten Wohlgefühls |149| wurden, und schließlich entdeckte ich neben einer Schonung die schönste Tanne im Forst. Jedenfalls sagten das die Leute, nachdem ich zum Parkplatz auf der Lichtung zurückgekehrt war und einen Glühwein trank.
Noch bin ich unentschlossen, welchen Schmuck ich verwenden soll. Lametta ist aufwendig, käme ARS Geschmack aber sicherlich näher als bunte, verzierte Kugeln. Früher habe ich der Einfachheit halber meistens Kugeln verwendet. Es waren genügend andere Dinge zu erledigen, es gab soviel vorzubereiten, der Wein mußte ausgesucht und kalt gestellt werden, das Geschenkpapier, das von Jahr zu Jahr in einer blauen Plastikwanne aufgehoben wurde, mußte geglättet werden, bevor es wieder benutzt werden konnte, die Gans im Ofen mußte
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