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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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lebendig geworden. Und obwohl dieses Krächzen nur eine Sinnestäuschung sein konnte, bekam ich unter dem Blick des toten Auges auf einmal das Gefühl, etwas sollte eingelöst werden, etwas, das bisher übersehen oder vergessen worden war. Ich weiß bis jetzt nicht, was.
    Ich war unsicher, ob ich den Vogelkopf auf dem Kompost oder im Müll entsorgen sollte. Ich entschied mich für |191| den Kompost. Ich schaufelte Schneereste darüber, wodurch das Ganze einer Beisetzung ähnelte.
    Nach dem Spaziergang setzte ich mich in den Ledersessel. Ich las das letzte Protokoll wie das eines Fremden.
    Ich zog die Weste aus und mußte dann das Fenster öffnen, und weil das nicht genügte, nahm ich eine Schere und zerschnitt den Lampenschirm, an dem das Eichendorff-Gedicht befestigt war.
O du gnadenreiche Zeit!
    Es heißt ja, daß einem das, was man am Vorabend jenes Tages notiert, an dem man jemanden zu lieben beginnt, später vorkäme wie die Aufzeichnung eines Toten. Im Grunde müßte es dasselbe sein, wenn man aufhört, jemanden zu lieben.
    Vielleicht war es nur folgerichtig, daß ich die Taube erst bei meiner Rückkehr sah.
    Ich hatte einen ausgedehnten Spaziergang gemacht. Ich war weiter als gewöhnlich gelaufen, um mich zu erfrischen. Es hatte mir nicht gut getan, die Feiertage über im Haus zu bleiben. Ich war steif und schläfrig geworden, und an einem der Abende hatte ich eine ganze Flasche Kümmel geleert und dann eine Weihnachtsgeschichte unter Alkoholeinfluß geschrieben, was man merkt. Ein einziges Delirieren im Wüstensand, in einer Gegend, in der ich nie gewesen bin.
    Ich lief lange am Kanal entlang. Ich folgte den Bahngleisen bis zur Jugendherberge, wo ich in den Weg zum See einbog. Ich atmete die frische Luft, spürte, wie die Kälte auf den Wangen zwiebelte; Wüstensand und Kümmelgeschmack waren wie weggeblasen.
    Der Weg führt durch Ginster und wilde Himbeerbüsche. Als ich den glatten, überfrorenen Pfad halb schlitternd, halb stolpernd hinuntergelaufen war, sah ich in der Ferne Gestalten auf dem Eis.
    |192| Es waren Mädchen. Sie trugen hellblaue und weiße Daunenjacken, sie trugen Anoraks mit Kunstfell am Saum der aufgeblähten Kapuzen. Rauchend standen sie in der Mitte vom See, eine unbeschwerte, bunte Gruppe. Hinter dem Ginster verborgen sah ich zu ihnen hinüber.
    Ich dachte daran, wie ich vor ungefähr vier Jahren auch hier gestanden und einer Gruppe Mädchen beim Baden zugesehen hatte. Die Mädchen damals waren jünger gewesen. Sie waren elf, zwölf Jahre alt gewesen, und jetzt fielen sie mir wieder ein, weil es gut hätte sein können, daß es dieselben Mädchen waren draußen auf dem Eis, nur älter geworden. Sie hatten während der letzten Jahre die Pubertät durchlebt. Nichts verändert so sichtbar und ohne eigenes Zutun wie diese kurze Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein. Aber sie schienen noch genauso unbeschwert und einander vertraut wie damals.
    Sie strahlten Fröhlichkeit, Selbstvergessenheit aus, die Stürme der Pubertät hatten sie nicht auseinandertreiben können. Ihre Gesichter wirkten feurig vor der Schneelandschaft. Die Mädchen waren so lebendig, daß das Eis unter ihnen zu schmelzen schien.
    Sie lachten und hielten sich an den Händen, und eine von ihnen bückte sich. Sie füllte die Kapuzen der anderen mit Schnee. Und plötzlich sprangen alle auseinander, stießen sich an, jagten sich, zogen an Ärmeln und Kapuzen, seiften sich ein, schlitterten und bewarfen sich mit Schneebällen. Ihr Lachen drang herüber. Es wurde vom Wind auseinandergerissen, aber Fetzen davon trafen auf eine günstige Schallwelle, und ein Echo kam vom Waldrand zu mir zurück.
    Als eine von ihnen ausglitt und der Länge nach hinfiel, kam sofort eine andere herbei, um festzustellen, daß nichts Schlimmes geschehen war, sie stand vornübergebeugt, was |193| sich die nächste sofort zunutze machte und sie von hinten leicht schubste, so daß sie kreischte und ebenfalls fiel, und schon kam wieder eine herangerutscht und stieß an die schadenfreudige Dritte, bis sie alle übereinander lagen, ineinander verkeilt auf dem Eis, und mit ihren dicken Jacken sah das Gebilde, das sie ergaben, wie ein Käfer aus.
    Schließlich kamen sie los und rollten auseinander, jauchzend und voneinander berauscht. Dann wurden sie still. Sie lagen auf dem Rücken, Seite an Seite, und sahen zum Himmel.
    Der Himmel war blau. Glitzernde Kristalle fielen auf sie herab, ein Schneegeriesel, das vom Wirbel der Mädchen aufgestoben war und sich

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