Vom Himmel hoch
Abiturprüfung stand und beste Chancen hatte, das Ziel zu verfehlen. Seit
einem halben Jahr führte Christoph eine Wochenendbeziehung und musste mit den
Vorwürfen seiner Frau leben, dass ihr neben der zeitraubenden eigenen
Berufstätigkeit zusätzlich die alleinige Verantwortung für alle Aufgaben aus
dem Bereich der privaten Lebensführung zufallen würden. Schon gar nicht konnte
sie es verstehen, dass sein Dienst ihn auch außerhalb der Bürozeiten forderte,
gelegentlich auch die freien Tage umfasste. Einen bis heute nicht beigelegten
Konflikt in der ehelichen Beziehung hatte das letzte Weihnachtsfest gebracht,
als er am Heiligabend einen Mordfall aufklärte, statt bei der Familie zu sein.
Diesen persönlichen Schwierigkeiten stand aber
entgegen, dass ihn mit den Menschen hier vor Ort ein vertrauensvolles und
überaus kollegiales Verhältnis verband. Man konnte sich blind aufeinander
verlassen, ging gemeinsam die manchmal unlösbar erscheinenden Probleme an und
verstand auch im zunehmenden Maße die kleinen und großen Sorgen des anderen.
Außerdem fand er Gefallen an dieser Gegend, an Land
und Leuten. Die schier unendliche Weite der Marsch, die kleinen, überschaubaren
Orte, die wortkargen Menschen, die mehr mit dem Herzen und ihrem Handeln als
mit Worten kommunizierten. Allein diese unbeschreibliche Seeluft mit ihrem
leichten Salzgeschmack, die spürbar Lunge und Hirn freiblies …
Frustriert ließ er den Hörer auf das Telefon fallen.
Große Jäger blickte von seiner Computertastatur auf
und kommentierte kurz und bündig: »Scheiß-Starke!«
Christoph nickte nur.
Der Oberkommissar zeigte mit seinem nikotingelben
Finger auf seinen Bildschirm. »Ich habe etwas Interessantes gefunden. In
unserer Kundendatei taucht nur eine einzige Person auf. Alle anderen sind
sauber. Rate mal, wer das ist?«
Christoph zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, nun
mach es nicht so spannend.«
»Der Hausmeister, Harry Schädlich! Über den gibt es
einen Eintrag. Der ist wegen Körperverletzung vorbestraft. Schädlich hat im
Alkoholrausch einen anderen Mann übel zugerichtet. Die Strafe wurde zur
Bewährung ausgesetzt. Alle anderen sind nicht erfasst, nicht einmal mit
Verkehrsverstößen. Ach ja«, Große Jäger lehnte sich zurück, »ich habe außerdem
recherchiert, wer einen Lkw-Führerschein hat. Grundsätzlich einmal vorweg: Alle
Beteiligten haben einen Führerschein. Über eine Fahrberechtigung für Lkws
verfügen neben dem Fahrer Davor Bardolic aber nur drei: der Hausmeister, der
seinen Bundeswehrschein zivil umschreiben ließ, Arno Kleinwächter, der sich mit
einem eigenen kleinen Betrieb selbständig gemacht hat, und, die große
Überraschung, Volker Schwarz, der den Eindruck erweckt, er könne kein
Wässerchen trüben.«
Christoph bat den Oberkommissar: »Könntest du
versuchen, etwas über den Aufenthaltsort dieses Fahrers herauszubekommen, den
die Leute dort im Betrieb immer den Jugo nennen?«
»Und wenn der Grund für den Mord im privaten Umfeld
Banzers zu suchen ist? Was ist mit seiner angeblichen Spielleidenschaft?«
»Dieser Spur geht die Mordkommission nach. Ich werde
mich inzwischen mit der Frage befassen, wie der tote Harald Banzer auf den
Marktplatz gekommen ist.«
»Ist das nicht auch Aufgabe des K1?«
»Unterstellen wir, dass die Antwort für unsere Suche
nach dem Lkw von Bedeutung ist«, lächelte Christoph und griff zum Telefon,
überlegte es sich aber nach einem kurzen Blick auf die Uhr und informierte
Große Jäger, dass er Dr. Hinrichsen persönlich in dessen Praxis aufsuchen
wollte.
*
Husum war die Stadt der kurzen Wege, und man legte
kleinere Entfernungen zweckmäßigerweise zu Fuß zurück.
Christoph genoss die milde Frühlingsluft, die von
einer fast immer vorhandenen Luftbewegung begleitet wurde, überquerte den Platz
mit den kleinen Pavillons, der in früheren Zeiten einmal als Busbahnhof gedient
hatte, und bog auf den Marktplatz ein, der von der Tine überragt wurde, dem
Standbild einer Fischerfrau. Die rot geklinkerte Tordurchfahrt neben dem
historischen Rathaus führte in die kleine Gasse, die direkt zum Schloss mit
seinem weithin bekannten Park ging, der im Frühjahr mit seinen Millionen von
Krokusblüten die Touristenmassen anzog. In der kleinen Fußgängerzone hatte Dr.
Hinrichsen seine Praxis.
Vor dem Empfangstresen tummelten sich Heerscharen von
Patienten.
Anna Bergmann blickte hoch, sah über ihren Brillenrand
hinweg und gewahrte Christoph.
»Zum Doktor?«, fragte sie
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