Vom Kämpfen und vom Schreiben
vorliest, sie moderiert souverän. Und plötzlich ruft sie meinen Namen auf, ich erstarre vor Schreck. Mit weichen Knien gehe ich nach vorn, jemand drückt mir ein Mikrofon in die Hand, und Frau Semola fordert mich auf, mich vorzustellen. Ich habe keine Ahnung, wieso sie weiß, wer ich bin, und warum sie das tut. Ihr Gesicht verrät nichts.
Meine Stimme zittert, als ich kurz meinen schriftstellerischen Werdegang erzähle. Die Autoren an den Tischen klatschen höflich.
Später kommt eine Frau zu mir, die sich als Marita vorstellt: »Ich will dich kennenlernen!«
Solch klare Ansagen mag ich, die Frau ist mir sympathisch. Ihre Autorenbiografie sei meiner ähnlich, erzählt sie, drei Bücher habe sie geschrieben, darunter auch einen Ratgeber, und nun komme bald das vierte. Marita hat ein Kind, ist auch geschieden und lebt auch allein. Wir verabreden uns in der Stadt. Ich hoffe, dass ich endlich eine Freundin gefunden habe.
Marita hat einen Beruf, der eigentlich gut bezahlt wird, in einer Branche, die zeitlos floriert: Sie ist examinierte Altenpflegerin. Diesen Beruf will sie aber nicht mehr ausüben: Sie habe die Schnauze voll vom Dienen, keine Lust mehr, anderen Leuten den Arsch abzuwischen und dafür mit einem Hungerlohn abgespeist zu werden.
Marita bekommt Hartz IV, wie ich. Sie wohnt auch in einer Einzimmerwohnung, wie ich. Die Gemeinsamkeiten verführen mich zu der Annahme, wir seien uns ähnlich.
Marita hat ein altes Auto. Als sie einmal mit der Straßenbahn fahren muss, weil sie ihrem Sohn das Auto für eine Urlaubsreise nach Skandinavien geliehen hat, beschwert sie sich bitterlich über ihre Armut: In der stinkenden verdreckten Bahn müsse sie fahren, mit Ausländern und Asozialen in einem Waggon, und der Sohn würde schön in der Weltgeschichte rumkurven.
Marita ist seit zehn Jahren Single. Ich rate ihr, sich im Internet in den Singlebörsen umzusehen, denn um in der »freien Wildbahn«, also zum Beispiel in Kneipen, jemanden kennenzulernen, hat man als Hartzer kein Geld. Außerdem habe ich Martin in einem Internetforum kennengelernt und somit »gute Erfahrungen«. Marita sagt, das habe sie alles schon durch, die Fratzen, die da rumhängen, seien alle arm oder hässlich oder gestört. Wenn sie nur schon die Gesichter sähe, kriege sie das kalte Kotzen.
Marita ist klein, übergewichtig und kleidet sich unvorteilhaft für ihre Figur. Mit über fünfzig trägt sie bauchfreie rosa T-Shirts ohne BH.
Sie träumt vom Auswandern. Wenn sie nicht so arm wäre, wäre sie längst weg, sagt sie.
Ich erkenne, wie verzweifelt Marita ist, und will ihr helfen. Dass aber Dinge und Methoden, die mir helfen, für sie nicht geeignet sind, begreife ich leider nicht, und so reden Marita und ich lange Zeit aneinander vorbei. Während ich mich in konkrete Arbeit stürze, meinen Tag strukturiere und täglich schreibe, beschränkt Marita sich darauf, vom Schreiben zu träumen. Ich liebe schöne Kleider und Schuhe, habe aber kein Geld, mir neue Sachen zu kaufen, also kaufe ich gebrauchte. Samstags auf dem Flohmarkt suche ich nach Schnäppchen, und ich bin ein Trüffelschwein: Das einzige Joop-Kleid auf dem ganzen Markt finde ich und bekomme es für fünf Euro. Diese Shopping-Touren, bei denen ich nie mehr als zehn Euro ausgebe, tun mir gut. Ich habe das Gefühl, trotz Hartz IV am Leben teilnehmen zu können.
Marita verachtet sowas: »Wenn ich erst so weit bin, dass ich die abgelegten Klamotten von irgendwelchen reichen Tussis tragen muss, dann kann ich mich gleich erschießen! Das ist doch widerlich!«
Ich gehe zur Therapie, Marita lehnt das für sich – zunächst – Sie raucht, und meine Bemühungen, sie zum Aufhören zu motivieren, scheitern. Ab und zu lade ich sie zum Kaffee ein, besorge dann Kekse, einen Piccolo, hoffe auf ein schönes Gespräch in gemütlicher Atmosphäre.
Marita kann nichts genießen, sie jammert über die Ungerechtigkeiten des Lebens und beschwert sich, dass Frank Schätzing »die fette Kohle macht« und sie arm ist. »Wenn du für einen Beststeller gefeiert werden willst, musst du wohl zuerst einen schreiben«, sage ich.
Marita sieht mich nur an, sie antwortet nicht darauf.
Als Martin und ich beschließen, zusammenzuziehen, bin ich glücklich. Es beginnt für mich ein sicheres, normales Leben, die Einsamkeit und die Unsicherheit sind vorbei. Wir mieten eine schöne Zweizimmerwohnung, deren Miete wir uns teilen. Vom Hartz IV kann ich genau die Hälfte bezahlen.
Marita hilft uns beim Umzug. Als sie
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